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Reisende auf einem Bein

Reisende auf einem Bein

Titel: Reisende auf einem Bein
Autoren: Herta Mueller
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nicht gesagt.
    Daß es mich beschäftigt, haben Sie gesagt.
    Ich würde Sie gerne mit geschlossenen Augen photographieren.
    Er hatte geknipst.
    Das nützt nichts: Sie wollen Paßbilder. Und das Paßamt nimmt die Photos mit geschlossenen Augen nicht an.
    Sie sind doch geschminkt, Sie können doch nicht leugnen, daß Sie schön sein wollen: Es ist doch gut so. Für mich ist es gut so. Oder schminken Sie sich, damit es keiner merkt.
    Ich schminke mich, weil ich früher mal schön sein wollte, hatte Irene gesagt. Das ist so geblieben.
    Das mit dem Schminken.
    Ist jemand gestorben, hatte er gefragt.
    Irene hatte den Kopf geschüttelt.
    Das ist die Liebe, hatte er gesagt. Bei älteren Leuten ist es der Tod, bei jüngeren die Liebe.
    Er hatte geknipst.
    Dann hatte Irene Lust gehabt, die Paßphotos in den Regen zu halten, und hatte es nicht getan. War unters Dach vor den ersten Hauseingang gegangen. Hatte ein Photo aus dem Umschlag genommen und es angeschaut.
    Eine bekannte Person, doch nicht wie sie selbst. Und da, worauf es ankam, worauf es Irene ankam, an den Augen, am Mund, und da, an der Rinne zwischen Nase und Mund, war eine fremde Person gewesen. Eine fremde Person hatte sich eingeschlichen in Irenes Gesicht.
    Das Fremde an Irenes Gesicht war die andere Irene gewesen.
    Irene hatte geträumt, daß sie den Koffer packte.
    Überall im Zimmer lagen Sommerblusen.
    Der Koffer war voll.
    Irene legte noch Sommerblusen dazu. Sie waren schwer zu falten, weil sie so leicht waren, daß sie aus den Händen glitten.
    Irene hörte Schritte hinter sich.
    Ins Zimmer kam der Diktator.
    Er trat auf die Sommerblusen. Sie waren für ihn wie Laub unter den Bäumen.
    Er ging durchs Zimmer, als hätte er eine weite, offene Straße vor sich. Er ging zum Koffer.
    Dort ist es kälter, sagte der Diktator.
    Er schlug den Kragen hoch.
    Er steckte beide Hände in die Rocktaschen.

    Irene hatte den Paß mit dem Photo der anderen Irene in der Handtasche durch die Stadt getragen.
    Durch die vier Fächer der Drehtür waren vier Briefträger, jeder in einem Fach, nacheinander, aus der Post heraus auf die Straße gegangen. Die Drehtür hatte sich noch gedreht, als die Briefträger am Rand des Gehsteigs gestanden und zu laut gesprochen hatten.
    Irene ging eingeschlossen in einem Fach im Rhythmus der Drehtür in die Halle der Post.
    Die Halle summte.
    Irene hatte Franz anrufen wollen. Sie hatte sich in Gedanken einige kurze Sätze zurechtgelegt. Die hatten sich nicht einmal in Gedanken glaubwürdig angehört:
    Ich freue mich auf dich. Ich hab so oft an dich gedacht. Ich kann es fast nicht glauben. Oder bloß: Ich komme. Und den Tag. Die Uhrzeit wußte Irene noch nicht.
    Die Telefonistin hatte Irenes Paß verlangt. Sie hatte zu laut gesprochen. Sie hatte geschrieen.
    Irene diktierte die Telefonnummer.
    Die Telefonistin hatte die Schultern gezuckt:
    Ich versteh Sie nicht.
    Erst als Irene so laut wie sie gesprochen hatte, hatte sie die Telefonnummer auf ein Blatt geschrieben. Sie hatte langsam geschrieben.
    Warten, sagte sie.
    Mit der Fingerspitze hatte sie eine Liste abgesucht.
    Marburg, hatte Irene gesagt.
    Ich verstehe kein Wort.
    Irene hatte geschrieen. Die Telefonistin hatte den Kopf geschüttelt:
    Ist nicht da, ist nicht auf der Liste.
    Irene hatte die Fingerspitzen der Telefonistin angesehen:
    Neben Frankfurt.
    Ist nicht im Verzeichnis.
    Bitte, hatte Irene gesagt.
    Ist nicht da. Da ist Hamburg, Freiburg, Würzburg. Ist alles da. Gehen Sie zur Seite. Sie stehen mir im Licht.
    Die Telefonistin hatte Irenes Paß zugeklappt, ihn durchs Fenster gereicht. Hatte gesagt, Sie halten mich auf. Hatte die Frau, die hinter Irene gestanden hatte, angesehen.
    Da Irene noch immer dagestanden hatte, war sich dieTelefonistin mit der Fingerspitze, mit der sie die Liste abgesucht hatte, vor den Augen hin und her gefahren:
    Ich bin nicht blind. Sie sind taub.
    Irene war auf die Drehtür zugegangen. Hatte sich in ein Fach der Drehtür gestellt. Ein Mann mit einer grauen Pelzmütze hatte im nächsten Türfach gestanden. Der hatte mit der Fingerspitze an die Scheibe des Fachs geklopft:
    In die andere Richtung, hatte er gesagt.
    Irene hatte sich mit dem Gesicht in die andere Richtung gestellt.
    Der Mann hatte die Drehtür gedreht. Irene war im Rhythmus seiner Schritte, die sie nicht hatte sehen können, hinaus auf die Straße gegangen.

3
    DIE MÄNNER traten einzeln aus der Durchsuchungskabine in den Warteraum des Flughafens. Der Mann in Uniform bewegte den Detektor. Der
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