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Reisende auf einem Bein

Reisende auf einem Bein

Titel: Reisende auf einem Bein
Autoren: Herta Mueller
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sagte:
    Du bist Irene. Die Beschreibung trifft nicht zu. Gut, daß wir uns gefunden haben. Ich bin Stefan. Franz konnte nicht kommen.
    Er küßte Irene.
    Als er ihren Koffer trug, schaute sie ihn an.
    Irene sah Stefan in die Augen, er wandte den Kopf.
    Diese Blicke auf der Flucht kannte Irene aus dem anderen Land. Diese Scheu.
    Die Menschen hatten, als sie in der Ankunftshalle laut redeten, noch eine andere Person im Kehlkopf. Diese andere Person im Kehlkopf war Irene vertraut.
    Da die fremden Personen vertraute Personen im Kehlkopf trugen, waren sie nicht bloß Fremde. Sie waren fremder als Fremde.
    Irene wollte Stefans letzten Satz wiederholen. Er war verschwunden. Das Bewegen der Lippen störte das Gehör.
    Das Nachahmen war schwerer als das Erfinden.

4
    DER VORHANG bewegte sich.
    Der Vorhang bewegte sich, obwohl das Fenster geschlossen war und niemand eintrat, durch die Tür.
    Es war ein weißer Spitzenvorhang, der aussah wie die billigen Vorhänge in Zimmern, in denen vieles zur gleichen Zeit geschieht.
    Hier war ein Büro, hoch über den Bäumen am Ende der Stadt. Ein Büro im Übergangsheim.
    Sie haben bestimmt gemerkt, sagte der Beamte, Sie befinden sich beim Bundesnachrichtendienst. Das ist kein Geheimnis.
    Büros sind überall gleich, sagte Irene. Und Leuten wie Ihnen steht es nicht ins Gesicht geschrieben, wer Sie sind. Und Sie haben noch nichts gefragt.
    Sein Stuhl knisterte.
    Hatten Sie vor Ihrer Übersiedlung jemals mit dem dortigen Geheimdienst zu tun.
    Nicht ich mit ihm, er mit mir. Das ist ein Unterschied, sagte Irene.
    Der Beamte trug einen dunklen Anzug, wie Irene sie kannte aus dem anderen Land. Die Farbe zwischen braun und grau. Nur der Schatten hatte diese Farbe. Und das Blauweiß hatten nur die Hemden, die zum Schatten gehörten.
    Lassen Sie das Differenzieren vorläufig meine Sorge sein. Dafür werde ich schließlich bezahlt.
    Auch die Haltung des Kopfes, das Gesicht halb im Profil, ein wenig nach unten gewandt, kannte Irene. Das Kinn immer knapp über der Schulter, ohne sie beim Sprechen zu berühren.
    Der Beamte legte einen Faltbogen auf den Tisch. Es waren Gesichtstypen drauf. Und Rubriken für die Kleidung: schlampig, sportlich, flott, elegant, zweckmäßig.
    Irene nannte fünf Namen und beschrieb fünf Personen.
    Der Beamte siebte. Was übrig blieb, war nichts als eine Handvoll zweideutiger Begegnungen. Das war für ihn Irenes Leben: dreißig Jahre unter vier Augen.
    Was wußte er, der mit den Blicken zielte, von leise am Randstein parkenden Autos, vom Echo der Brücken in der Stadt, vom Fingern der Blätter im Park. Von streunenden Hunden, die vor Hunger klapprig waren und auf Stelzen gingen, sich neben Mülltonnen paarten und jaulten mitten am Tag. Sie hatten die Farbe seines Anzugs. Auch sie waren Schatten.
    Fingernägel. Ohrläppchen, fragte der Beamte.
    Darum ging es damals nicht, sagte Irene.
    Denken Sie nach.
    Der Beamte bewegte den Kopf. Sein Gesicht half Irene. Sie schaute es an. Sagte, was sie sah.
    Beachten Sie die Formulierungen des Faltbogens.
    Er lehnte das Kinn in die Hände.
    Fliehende Stirn, fleischige Hände, Kleidung wie Sie, sagte Irene.
    Er kreuzte: zweckmäßig an.
    Wollten Sie die Regierung stürzen.
    Nein.
    Autos rauschten weit unten, hinaus aus der Stadt.
    Keine Rubrik hätte mich beschreiben können, dachte Irene. Der Herr vom Dienst irrt quer über Felder. Das war eine Redewendung aus dem anderen Land. Sie meinte, auf etwas beharren, ohne zu verstehen.
    Draußen hatte der Himmel sich verändert. Durch den Spalt zwischen Vorhang und Vorhang zog eine Wolke.
    Der Beamte hatte Irene zur Tür begleitet:
    Falls Sie dennoch einen Auftrag haben. Ich meine es gut.
    Der Vorhang schlug, als seine Hand die Türklinke berührte.
    Als sich die Tür bewegte, bewegte sich der Vorhang nicht.
    Ein halber Tag war vergangen. Ein ganzer Nachmittag.
    Die Luft war kühl. Irene schaute mit kleinen Augen in die Neonschrift der Stadt, in den flimmernden Kanal der Straßenkreuzungen, in die verlorenen, kurzen Straßen.
    Irene lachte stumm. Preßte die Arme eng an die Rippen. Hielt sich beim Gehen am äußersten Rand der Fußsohlen fest.
    In ihrem Kopf fand etwas anderes statt. Es hätte das Gegenteil sein können von dem, was Irene gerade tat, wenn sie gewußt hätte, was es war.

    Im Übergangsheim waren alle Plätze belegt. Irene wohnte im Asylantenheim. Es lag in der Flottenstraße. Die Flottenstraße war eine Sackgasse.
    Der Bahndamm lag auf der einen Straßenseite. Die Kaserne auf
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