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Reisende auf einem Bein

Reisende auf einem Bein

Titel: Reisende auf einem Bein
Autoren: Herta Mueller
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Franz.
    Irene spürte die Wärme des Rückens, die Wärme des Betts, die Wärme der Kleider und die Wärme der Haut.
    Jede Wärme war anders.
    Der Rand der Decke lag um den Hals. Irene fühlte sich wie begraben.
    Ihre Lider wurden länger. Reichten für das ganze Gesicht.
    Für das ganze Zimmer reichten Irenes Lider.
    Langsam schlossen sie sich.
    In Schattenstreifen verwandelt wie Jalousien.

6
    DER FUSSBODEN in Irenes Zimmer war dunkelbraun gestrichen. Er nahm der Decke und den Wänden das Licht weg. Er hatte dieselbe Farbe wie die Wände des Innenhofs.
    Was waren das für Menschen, sagte Stefan.
    Irene zuckte die Schultern. Sie kannte die Vormieter nicht. Stefan kannte zwei Polen.
    Es dauert zwei, drei Tage, sagte Stefan. Schwarzarbeit, das kennst du doch.
    Die beiden Polen kamen sehr früh am Morgen. Sie brachten zwei Reisetaschen. Nahmen aus den Reisetaschen die Schleifgeräte heraus. Stellten sie neben die Wand. Zogen ihre Schuhe aus.
    Der eine Mann schaute in den Innenhof und schüttelte den Kopf. Der andere prüfte mit den Fingerspitzen den Fußboden.
    Schlüssel, sagte der Mann, der am Fenster stand.
    Gesichter aus dem Osten, dachte Irene. Sie erkannte diese Art der Müdigkeit, die nichts mit Arbeit und nichts mit Ausruhen zu tun hatte.
    Woher kommt ihr, fragte Irene.
    Polen, sagte der Mann am Fenster.
    Aus welchem Ort.
    Der Mann nannte den Namen des Ortes. Irene verstand nicht, was er sagte. Sie nickte.
    Viel Staub, sagte der Mann, der den Fußboden geprüft hatte.
    Irene verpackte das Telefon und die Uhr in Plastiktüten.
    Ich komme am Abend wieder, sagte Irene.
    Der Mann am Fenster begleitete Irene zur Tür. Er ging auf den Socken, auf den Zehenspitzen. Er verschloß die Tür von innen und legte die Kette vor.
    Das Schleifgerät summte im ganzen Innenhof.
    Die beiden Polen waren weggegangen, als Irene aus der Stadt kam. Die Schleifgeräte waren in die Reisetaschen gepackt. Die standen hinter der Tür. Zwei Flecken, so groß wie vier Tischplatten, waren abgeschliffen. Der Wand entlang standen leere Saft und Mineralwasserflaschen. Im Aschenbecher lagen halbgerauchte Kippen. Sie rochen wie die Zigaretten aus dem anderen Land.
    Drei Tage kamen und gingen die beiden Polen im Dunkeln. Drei Tage zogen sie die Schuhe aus und gingen auf den Socken, auf den Zehenspitzen durch die Wohnung. Drei Tage summten die Schleifgeräte, wenn Irene durch den Innenhof ging, im Holunder und im Gras. Und an allen Fenstern der Wände.
    Jeden Abend hatten sich die leeren Flaschen der Wand entlang vermehrt.
    Die Müdigkeit, die Irene kannte aus dem anderen Land, war an all den drei Tagen die gleiche geblieben. Irene wußte, daß sie in allen Poren war. Die Müdigkeit war Gefahr. In allen Poren der beiden Gesichter stand die Angst vor dem Lärm der Schleifgeräte.
    Nichts veränderte sich in diesen drei Tagen. Nur dieabgeschliffenen Flecken auf dem Fußboden wurden immer größer. Waren am dritten Abend so groß wie das Zimmer.

    Irene kaufte eine Ansichtskarte. Auf der Karte war ein Schwimmbad. Schwarzweiß. Die Köpfe auf dem Wasser waren grau.
    Am Ufer stand ein Schachbrett mit Figuren. Das Wasser schlug unter das Schachbrett. Die Schachspieler standen im Wasser. Sie dachten nach. Sie sahen direkt ins Bild. Die Karte war eine Karte der Schachspieler. Sie waren der Gegenstand des Bildes.
    Ein Mann saß abseits. Er hatte das Kinn in die Hände gestützt. Er schaute aufs Wasser. Der Photograph hatte ihn, als er das Bild der Schachspieler gemacht hatte, nicht wahrgenommen. Der Mann, der abseits saß, gehörte nicht ins Bild.
    Die Karte der Schachspieler war für Irene die Karte des Mannes, der abseits saß. Nur so wurde die Karte ein Geschehen, das nicht zu Ende war.
    Seit zwei Tagen, seitdem Irene die Karte gekauft hatte, geschah was mit dem Mann, der abseits saß. Für ihn schien mehr Zeit vergangen zu sein als zwei Tage.
    Irene schnitt, da, wo der Mann saß, das Ufer ab. Die Schere berührte das Schachbrett nicht.
    Der Mann lag gekrümmt auf dem Wasser. Irene schnitt auch das Wasser ab. Der Mann fiel in Irenes Hand.
    Weil er mir nicht gleichgültig war, hätt ich ihn fast ertränkt, schrieb Irene auf ein Blatt. Wie du das Meer, hat er das Schwimmbad nicht ertragen.
    Franz, ich zögere, wenn ich dir schreibe. Es gibt eine Sehnsucht, die schlaff macht. Meine Hand schläft fast, jetzt, wo ich dir schreibe.
    Irene faltete das Blatt und legte den Mann hinein. Er lag wie im Schnee. Es war zu spät für ihn. Es war wie danach.
    Irene
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