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Reisende auf einem Bein

Reisende auf einem Bein

Titel: Reisende auf einem Bein
Autoren: Herta Mueller
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den Armen. Sie schwitzte.
    Dann stand Irene wieder vor der Wohnungstür.
    Sie lief ins Zimmer. Steckte das Photo in die Manteltasche. Als Irene zurück zur Tür ging, sah sie, daß der Schlüsselbund immer noch schaukelte im Schlüsselloch.
    Über der Straße lag ein müdes Licht.
    Eine Frau sagte: Heute kommt Schnee. Ich spür es in den Beinen. Irene hatte die Frau noch nie auf dieser Straße gesehn. Sie war alt. Trug einen polierten Gehstock. Ihrem Mantel sah man an, was er gekostet hatte.
    Irene überquerte die Straße neben einem Berg abgeschnittner Äste. Sie waren nicht von einem der Bäume, die auf der Straße standen. Lagen seit einigen Tagen an der gleichen Stelle. Hatten sich nicht verändert. Weil es kalt war, blieben die Blätter grün. Wenn man sie mit der Hand berührte, zerbrachen sie.
    Irene griff in die Manteltasche und zerknüllte das Photo. Ließ es in einen Papierkorb fallen.
    Dann fing Irene das Gefühl ein, es könnte plötzlich alles anders werden in der Stadt. Die alten Frauen mitden weißen Dauerwellen, polierten Gehstöcken und Gesundschuhen könnten plötzlich wieder jung sein und in den Bund Deutscher Mädchen marschieren. Es würden lange, fensterlose Wagen vor die Ladentüren fahren. Männer in Uniformen würden die Waren aus den Regalen beschlagnahmen. Und in den Zeitungen würden Gesetze erscheinen wie in dem anderen Land.
    Eine Frau lehnte an einer Telefonzelle. Sie kaute Kaugummi. Sah mit leerem Blick die Straße hinunter. Stieß weiße Blasen aus dem Mund. Die zerplatzten an der Luft. Weiße Fetzen klebten an ihren Lippen.
    Am Randstein parkte ein Wagen. Die Frau stieß sich von der Telefonzelle weg. Lief auf einen Mann zu. Empfing ihn mit einer milchweißen Blase im Mund.
    Irene ging in den U-Bahn-Schacht. Dort stand der Photoautomat.
    Irene zog den Vorhang zu. Warf die Münze in den Schlitz. Schaute in den Spiegel. Sie hob die Bluse und sah ihre Brüste im Spiegel an. Dann kämmte Irene sich. Das Haar nach vorne, das Haar nach hinten. Das eine Ohr bedeckt, das andere Ohr nackt. Dann blies Irene das Haar aus der Stirn, zurück.
    Und weil das Haar so flog und weil sich mitten auf dem Kopf ein Scheitel wie ein weißer Faden teilte, weinte Irene, und das Licht blitzte. Und die U-Bahn rauschte und blieb stehn.
    Irene wartete vor dem Automaten auf die Photos. Die U-Bahn war weggefahren. Im Schacht knisterte die Luft.
    Irene wußte, daß im Gehäuse des Automaten einMann stand. Denn das Photo war warm. Es war Körperwärme.
    Und wie in dem anderen Land, wie auf den Paßphotos, war auch auf diesen Photos eine fremde Person.
    Auch auf den Photos des Automaten war die andere Irene.

7
    JETZT SIND Sie seit einer Weile hier, sagte der Sachbearbeiter.
    Das Wort Weile stand noch in seinem Gesicht wie der Schatten unter seinem Kinn.
    Haben Sie Heimweh.
    Irene sah, wie sich seine Augen bewegten, als hätten sie unter den Lidern keinen Platz:
    Nein.
    Denken Sie nie zurück.
    Sehr oft.
    Und dann.
    Sie haben Heimweh gesagt.
    Irene suchte eine Stelle an seinem Rock, an der ihr Blick sich festhalten konnte.
    Sie sind so empfindlich, sagte der Sachbearbeiter, so empfindlich. Man könnte meinen, daß unser Land alles aufwiegen soll, was Ihr Land verbrochen hat.
    Irenes Blick war an einem Knopf hängengeblieben.
    Jeder hat seine eigene Rechnung, sagte der Sachbearbeiter.
    Seinen Lebenslauf, sagte Irene.
    Nein, seine Rechnung. Ein Lebenslauf kann nicht falsch sein.
    Wie zu sich selbst sagte Irene:
    Ich kenne nur falsche Lebensläufe.
    Der Sachbearbeiter öffnete den Mund. Er sagte nichts. Seine Zunge stand im Mund, als hätte sie keinen Platz gehabt. Als wäre unter seiner Zunge noch etwas gewesen. Etwas anderes als eine Zunge. Als wäre unter seiner Zunge ein Finger gewesen. Ein trockener Finger mitten im Mund. Irene steckte das Kleidergeld in die Handtasche.

    Im Second-Hand-Laden hingen die Kleider eingeteilt in Feldern. Kolonnen von Hemden, Jacken und Hosen.
    Die Luft des Ventilators griff Irene ins Gesicht.
    Monotone Hits dudelten im Raum. Besessen wie das endlose Hinabgleiten auf eisernen Stäben.
    Irene hatte das Wort Szene oft gehört.
    Als die Frau, die den grünen Mantel probierte, sich im Spiegel ansah, schlugen ihr Jahre ins Gesicht. In ihrem Nasenflügel glitzerte ein Steinchen. Die Löcher in ihrem pinkroten Haar waren so tief, daß ihre Kopfhaut wie eine Wunde aussah.
    Die Mäntel hingen im Hinterraum. Die Metallknöpfe und die Schnallen waren mit Grünspan bezogen. Die Mäntel hatten
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