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In einer Person

In einer Person

Titel: In einer Person
Autoren: John Irving
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[11]  1
    Eine Rollenbesetzung mit Hindernissen
    Ich möchte damit anfangen, von Miss Frost zu erzählen.
Auch wenn ich immer sage, ich sei Schriftsteller geworden, weil ich im
prägenden Alter von fünfzehn einen bestimmten Dickens-Roman las, war ich in
Wahrheit jünger, denn als ich das erste Mal Miss Frost begegnete und mir vorstellte,
Sex mit ihr zu haben, bedeutete dieser Augenblick meines sexuellen Erwachens
zugleich die Sturzgeburt meiner Phantasie. Was wir begehren, prägt uns. Ein
flüchtiger Moment verstohlenen Begehrens, und ich wollte Schriftsteller werden
und Sex mit Miss Frost haben – nicht unbedingt in dieser Reihenfolge.
    Ich lernte Miss Frost in einer Bibliothek kennen. Ich mag
Bibliotheken, obwohl ich Mühe mit der Aussprache des Wortes habe – im Plural
wie im Singular. Offenbar fällt mir die Aussprache bestimmter Wörter äußerst
schwer; überwiegend Hauptwörter: Menschen, Orte und Dinge, die mich entsetzlich
aufgeregt, in schwere Konflikte oder abgrundtiefe Panik gestürzt haben. Na ja,
jedenfalls sind die diversen Stimmbildner, Logopäden und Psychiater, die mich –
leider vergeblich – behandelt haben, zu dieser Ansicht gelangt. In der
Grundschule blieb ich einmal sitzen: wegen »schwerer Sprachstörungen«, was
maßlos übertrieben war. Mittlerweile bin ich Ende sechzig, fast siebzig, [12]  und
die Ursache meiner Sprachfehler ist mir inzwischen egal. (Kurz und knapp:
Scheiß auf die Kausalität.)
    Das Wort Kausalität versuche ich gar nicht erst auszusprechen,
wohingegen ich mir durchaus eine halbwegs verständliche falsche Aussprache von
Bibliothek oder Bibliotheken abringen kann, bei der das vertrackte Wort am Ende
wie eine exotische Frucht herauskommt. (»Bibbelothek«, oder »Bibbelotheken«,
sage ich – kindisch.)
    Umso komischer, dass meine erste Bibliothek nicht der Rede wert war.
Es war die Gemeindebücherei des Örtchens First Sister in Vermont, ein
gedrungener roter Klinkerbau an der Straße, in der auch meine Großeltern
wohnten. Ich lebte bei ihnen in der River Street, bis ich fünfzehn war und
meine Mutter wieder heiratete. Meinen Stiefvater hatte sie bei einer
Theateraufführung kennengelernt.
    Die örtliche Laienschauspieltruppe nannte sich die First Sister
Players; so weit ich zurückdenken kann, habe ich alle Aufführungen im kleinen
Theater unseres Städtchens gesehen. Meine Mutter war die Souffleuse: Wenn
jemand seinen Text vergaß, sagte sie ihm vor. (Da es eine Laiten truppe
war, wurde eine Menge Text vergessen.) Lange glaubte ich, die Souffleuse sei
auch Schauspielerin – eine, die geheimnisvollerweise nicht mit auf der Bühne
stand und nicht kostümiert, aber für den reibungslosen Ablauf unentbehrlich
war.
    Als meine Mutter ihn kennenlernte, war mein Stiefvater ganz neu bei
den First Sister Players. Er war gerade erst zugezogen, um in der Favorite
River Academy zu unterrichten – der fast schon renommierten Privatschule,
damals nur für Jungen. Schon als Kind, spätestens aber mit zehn oder elf, muss
ich gewusst haben, dass ich irgendwann, [13]  wenn ich »groß genug« wäre, auf
diese Schule gehen würde. Die Bibliothek der Academy war moderner und besser
beleuchtet, aber die Gemeindebibliothek von First Sister war meine erste
Bibliothek, und die dortige Bibliothekarin meine erste Bibliothekarin.
(Übrigens hatte ich mit der Aussprache von »Bibliothekarin« noch nie Mühe.)
    Natürlich war Miss Frost ein unvergesslicheres Erlebnis als die
Bibliothek. Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ich ihren Vornamen erst
lange nach unserer ersten Begegnung erfuhr. Jeder nannte sie Miss Frost, und
ich hatte den Eindruck, dass sie so alt wie meine Mutter oder etwas jünger war,
als ich endlich meinen ersten Bibliotheksausweis aus ihren Händen empfing.
Meine Tante, eine ausgesprochen herrische Person, hatte mir gesagt, Miss Frost
habe » früher mal sehr gut ausgesehen«, aber ich
konnte mir einfach nicht vorstellen, dass Miss Frost jemals besser ausgesehen
hatte als zu dem Zeitpunkt unserer ersten Begegnung – obwohl sich bei mir auch
als Kind schon das meiste nur in der Phantasie abspielte. Meine Tante
behauptete, sämtliche heiratsfähigen Männer am Ort hätten sich früher beim Anblick von Miss Frost überschlagen. Wenn einer
von ihnen den Mumm aufbrachte, sie anzusprechen – Miss Frost womöglich sogar
seinen Namen zu nennen –, habe die damals schöne Bibliothekarin ihn nur kühl
gemustert und mit eisiger Stimme gesagt: »Ich heiße Miss Frost, bin
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