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In einer Person

In einer Person

Titel: In einer Person
Autoren: John Irving
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Heiratsurkunde gesehen hatte, erinnerte
ich mich an den in meinen Augen exotischen, da weit von Vermont entfernten Ort
Atlantic City; mein Vater war dort in der Grundausbildung gewesen. Die
Scheidungspapiere zeigte mir niemand.
    »Der Sergeant zeigte kein Interesse an Ehe und Kindern«, hatte meine
Großmutter mir, sehr von oben herab, erklärt; schon damals war mir klar, dass
meine Tante ihre Überheblichkeit von meiner Großmutter hatte.
    Jedenfalls legitimierte mich aufgrund der Ereignisse in Atlantic
City (auf wessen Veranlassung auch immer) diese Heiratsurkunde, wenn auch
nachträglich. Ich wurde William Francis Dean jr. getauft, bekam also meines
Vaters Namen, wenn schon nicht ihn persönlich. Und etwas von seinen
Codeknackergenen muss ich auch geerbt haben – das »Draufgängertum« des
Sergeants, wie meine Mutter es nannte.
    »Wie war er denn?«, hatte ich sie mindestens hundertmal gefragt.
Darauf hatte sie immer so nette Antworten parat.
    [20]  »Oh, er war ein sehr gutaussehender
Mann – genau wie du später mal sein wirst«, versicherte sie mir dann lächelnd.
»Und ein Mordsdraufgänger.« Als ich noch ein kleiner Junge war, ging meine
Mutter sehr liebevoll mit mir um.
    Ich weiß nicht, ob alle Knaben in der frühen Pubertät sich so wenig
um Chronologie scheren wie ich damals, aber ich kam nie auf den Gedanken, die genaue
zeitliche Abfolge zu untersuchen. Mein Vater muss meine Mutter im späten Mai
oder frühen Juni 1941 geschwängert haben – gegen Ende seines ersten
Studienjahres in Harvard. Trotzdem nannte ihn nie jemand – nicht einmal Tante
Muriel mit ihren sarkastischen Bemerkungen – den Harvard -Knaben.
Er wurde immer nur der Codeknacker (oder der
Sergeant) genannt, obwohl meine Mutter auf seinen Bezug zu Harvard durchaus
stolz war.
    »Stell dir vor, mit fünfzehn in Harvard anzufangen!«, hatte ich sie
mehr als einmal sagen hören.
    Aber wenn mein Mordsdraufgänger-Vater in seinem ersten
Harvard-Semester (im September 1940) fünfzehn gewesen war, musste er jünger als meine Mutter sein, die im April Geburtstag
hatte. Im April 1940 war sie schon zwanzig gewesen; einen Monat nach meiner
Geburt im März 1942 wurde sie zweiundzwanzig.
    Hatten sie etwa nicht geheiratet, als ihre Schwangerschaft
feststand, weil mein Vater noch keine achtzehn war? Das wurde er erst im
Oktober 1942.
    Wie meine Mutter mir sagte: »Dank einer glücklichen Fügung wurde das
Einberufungsalter so weit herabgesetzt.« (Erst später fiel mir auf, dass der
Ausdruck glückliche [21]  Fügung aus dem üblichen Wortschatz meiner Mutter
herausfiel; vielleicht sprach da der Harvard-Knabe aus ihr.)
    »Dein Vater dachte, es wäre seiner militärischen Karriere
förderlich, wenn er sich freiwillig meldete, und im Januar 1943 war es so
weit«, erfuhr ich von meiner Mutter. (Die »militärische Karriere« klang auch
nicht nach ihrem Wortschatz, sondern eindeutig nach dem des Harvard-Knaben.)
    Mein Vater fuhr im März 1943 mit dem Bus nach Fort Devens,
Massachusetts, wo er seine Grundausbildung begann. Damals war die Air Force als
neue Einheit noch den Bodentruppen zugeteilt; ihm wurde das Spezialgebiet
Verschlüsselungstechnik zugewiesen. Für ihre Grundausbildung hatte die Air
Force ganz Atlantic City samt der umliegenden Dünen mit Beschlag belegt. Mein
Vater und seine Mitrekruten bezogen Quartier in den Luxushotels und verwüsteten
sie. Mit den Worten meines Großvaters: »In den Hotelbars wurde nie der Personalausweis
verlangt. An den Wochenenden strömten die jungen Frauen – vor allem
Regierungsangestellte aus Washington, D.C. – in
die Stadt. Das war ein munteres Treiben, kannst du mir glauben – bis dahin,
dass in den Dünen allerlei Waffen abgefeuert wurden.«
    Meine Mutter sagte, sie habe meinen Vater »ein- oder zweimal« in
Atlantic City besucht. (Als sie noch nicht verheiratet waren und ich ein Jahr
alt war?)
    Zu jener »Hochzeit« im April 1943 muss meine Mutter mit meinem
Großvater angereist sein; und zwar kurz bevor mein Vater zur
Kryptographenausbildung der Air Force in Pawling, New York, geschickt wurde –
wo er den Umgang [22]  mit Codebüchern und Spruchschlüsseln lernte. Von dort kam
mein Vater im Spätsommer 1943 nach Chanute Field in Rantoul, Illinois. »In
Illinois hat er das Dechiffrieren von der Pike auf gelernt«, sagte meine
Mutter. (»Von der Pike auf« gehörte ebenfalls nicht zum mütterlichen
Grundwortschatz.)
    »In Chanute Field hat dein Vater die elementare militärische
Chiffriermaschine
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