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In einer Person

In einer Person

Titel: In einer Person
Autoren: John Irving
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unverheiratet und werde es auch bleiben.«
    Daher war Miss Frost immer noch ledig, als ich sie kennenlernte; die
heiratsfähigen Männer in First Sister hatten – für mich unbegreiflich – längst
aufgehört, sie anzusprechen.
    [14]  Der entscheidende Roman von Charles Dickens – der mich dazu
brachte, Schriftsteller werden zu wollen – war Große
Erwartungen. Ich muss damals fünfzehn gewesen sein – sowohl bei der
ersten als auch bei der zweiten Lektüre. Ich weiß,
dass es vor meinem Wechsel an die weiterführende Schule war, weil ich mir das
Buch aus der Stadtbücherei von First Sister holte – zweimal. Nie werde ich den
Tag vergessen, an dem ich dieses Buch erneut ausleihen wollte; nie zuvor hatte
ich den Wunsch verspürt, einen ganzen Roman noch mal zu lesen.
    Miss Frost sah mich mit durchdringendem Blick an. Damals reichte ich
ihr nur knapp bis an die Schultern. »Miss Frost war früher mal, was man ›gutgebaut‹ nennt«, hatte meine Tante mir gesagt, als gehörten
selbst Miss Frosts Statur und Figur der Vergangenheit an. (Für mich war sie ein Leben lang gut gebaut.)
    Miss Frost war eine Frau mit aufrechter Haltung und breiten
Schultern, mein Hauptaugenmerk allerdings galt ihren kleinen, aber
wohlgeformten Brüsten. In scheinbarem Widerspruch zu ihrer mannhaften Größe und
unübersehbaren körperlichen Stärke hatten Miss Frosts Brüste etwas überraschend
Frisches, unwahrscheinlich Knospendes, Jungmädchenhaftes. Mir war schleierhaft,
wie eine ältere Frau so aussehen konnte, doch ihre Brüste mussten die Phantasie
jedes Knaben anregen, der ihr begegnete; jedenfalls bildete ich mir das ein,
als ich sie – wann war das noch gleich? – 1955 kennenlernte. Damit nicht genug;
man muss wissen, dass Miss Frost nie aufreizend
gekleidet war, jedenfalls nicht in der vorschriftsmäßigen Stille der
gottverlassenen Stadtbücherei von First Sister; ob morgens oder abends, [15]  ganz
egal, zu welcher Tageszeit, Besucher gab es praktisch nie.
    Meine herrische Tante hatte ich (zu meiner Mutter) sagen hören:
»Miss Frost ist weit über das Alter hinaus, in dem Teenager- BH s ausreichen.« Mit dreizehn hatte ich das so
verstanden, dass Miss Frosts Brüste – in der kritischen Sicht meiner Tante –
überhaupt nicht zu ihren BH s passten, oder
umgekehrt. Das fand ich gar nicht! Und während ich
mir noch den Kopf darüber zerbrach, warum meine Tante und ich, wenn auch auf unterschiedliche Weise, auf Miss Frosts Brüste fixiert
waren, bedachte mich die imposante Bibliothekarin mit dem bewussten
durchdringenden Blick.
    Mit dreizehn hatte ich sie kennengelernt; in diesem einschüchternden
Moment war ich fünfzehn, aber was die Intensität von Miss Frosts langem
bohrenden Blick anging, hatte ich das Gefühl, als schaue sie so schon mindestens
zwei Jahre. Schließlich beschied sie meinen Wunsch, die Großen
Erwartungen noch mal zu lesen, mit: »Den Roman hast du schon gelesen,
William.«
    »Ja, ich fand ihn toll«, beteuerte ich – nur um nicht damit
herauszuplatzen, wie toll ich sie fand. Sie war äußerst
förmlich – der erste Mensch, der mich ausnahmslos mit William anredete. In der Familie und unter Freunden war ich nur Bill oder Billy.
    Ich wollte Miss Frost mit nichts als ihrem BH am Leib sehen, der (nach Ansicht meiner
sittenstrengen Tante) nicht genügend Halt bot. Doch anstatt mit solch einer Taktlosigkeit herauszuplatzen, sagte ich: »Ich
will Große Erwartungen noch mal lesen.« (Kein Wort
über meine Vorahnung, Miss Frost habe einen mindestens ebenso verhängnisvollen [16]  Eindruck
auf mich gemacht wie Estella im Roman auf den armen Pip.)
    »Jetzt schon?«, fragte Miss Frost. »Du hast den Roman doch erst vor
einem Monat gelesen!«
    »Ich kann’s kaum erwarten, ihn noch mal zu lesen«, sagte ich.
    »Charles Dickens hat viele Bücher geschrieben«, erklärte mir Miss
Frost. »Du solltest es mal mit einem anderen versuchen, William.«
    »Oh, das kommt noch«, versicherte ich ihr, »aber erst will ich das
hier noch mal lesen.«
    Miss Frosts zweites »William« hatte bei mir eine spontane Erektion
ausgelöst – auch wenn ich mit fünfzehn einen kleinen Penis und einen lachhaft
enttäuschenden Ständer hatte. (Dazu nur so viel: Es bestand keinerlei Gefahr,
dass Miss Frost meine Erektion bemerkte .)
    Meine besserwisserische Tante hatte meiner Mutter gesagt, ich sei
ein Spätentwickler. Selbstredend hatte sie »Spätentwickler« in einem anderen
(oder allgemeineren) Sinne gemeint; soweit ich wusste, hatte
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