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In einer Person

In einer Person

Titel: In einer Person
Autoren: John Irving
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Idee besessen, etwas von dem
Kriegshelden stecke in mir, auch wenn sich die
Kriegsabenteuer meines Vaters genau genommen nicht sonderlich heldenhaft
anhörten – nicht einmal für meine kindlichen Ohren. Aber mein Großvater war
echter Zweiter-Weltkrieg-Fan – Sie wissen schon, so einer, der jede noch so
winzige Kleinigkeit faszinierend findet –, weshalb ich ständig von ihm zu hören
bekam: »Ich sehe den künftigen Helden in dir!«
    Meine Großmutter hatte praktisch nichts Positives über William
Francis Dean zu sagen, und meine Mutter beschrieb ihn immer nur als » sehr gutaussehend« oder »Mordsdraufgänger«, und mehr kam da
nicht.
    Nein, das stimmt nicht ganz. Als ich sie fragte, warum sie und mein
Vater auseinandergegangen seien, sagte sie mir, sie habe meinen Dad eine andere
Person küssen sehen. »Ich hab gesehen, wie er eine andere
Person geküsst hat«, war ihr einziger Kommentar, so unbeteiligt, als
souffliere sie einem Schauspieler, der die Formulierung andere
Person vergessen hätte. Daraus konnte ich nur schließen, dass sie den
Kuss beobachtet hatte, als sie schon mit mir schwanger war – möglicherweise
sogar nach meiner Geburt –, und dass sie genug von der Mund-zu-Mund-Begegnung
gesehen hatte, um zu wissen, dass es sich nicht um einen unschuldigen Kuss handelte.
    »Es muss ein Zungenkuss gewesen sein, so mit der Zunge in den Hals
rammen, weißt du«, vertraute mir meine ältere Cousine einmal an – ein ziemlich
derbes Mädchen, Tochter meiner bereits mehrfach erwähnten herrischen Tante.
Aber wen hatte mein Vater da geküsst? Zu gern hätte ich [26]  gewusst, ob es eines
jener Wochenendmädels war, die nach Atlantic City strömten, eine dieser
Regierungsangestellten aus Washington, D.C. (warum sonst hatte mein Großvater die erwähnt?).
    Mehr erfuhr ich damals nicht. Doch es reichte vollkommen aus, mir
Selbstzweifel (bis hin zu Selbstverachtung) einzuflößen, weil ich dazu neigte,
alle meine Fehler auf meinen leiblichen Vater zu schieben. Ihm gab ich die
Schuld an jeder schlechten Gewohnheit, jeder gemeinen und hinterhältigen Tat;
im Grunde genommen bildete ich mir ein, all meine Fehler und Schwächen wären ererbt.
Jeder Charakterzug, der mir an mir missfiel, musste von Sergeant Dean
herrühren.
    Hatte meine Mutter nicht gesagt, ich würde später
einmal gut aussehen? War das nicht auch ein Fluch? Und was das
Mordsdraufgängertum betraf – na ja, hatte ich mich nicht (mit gerade mal
dreizehn Jahren) erdreistet, Schriftsteller werden zu wollen? Hatte ich nicht
schon Sexszenen mit Miss Frost zusammenphantasiert?
    Glauben Sie mir, ich wollte nicht der Sprössling meines
durchgebrannten Vaters sein, sein Genpaket-Abkömmling – und sämtliche jungen
Frauen, die nicht bei drei auf den Bäumen waren, schwängern und sitzenlassen.
Denn das war schließlich Sergeant Deans Modus Operandi, oder etwa nicht? Sein
Name konnte mir auch gestohlen bleiben. William Francis Dean jr. zu sein, war
mir verhasst – der beinahe uneheliche Sohn des
Codeknackers! Wenn es je ein Kind gab, das sich einen Stiefvater wünschte, oder zumindest einen festen Freund an der Seite
seiner Mutter, dann ich.
    [27]  Was mich zu dem zurückführt, womit ich mein erstes Kapitel
ursprünglich beginnen wollte: Ich hätte auch damit anfangen können, von Richard
Abbott zu erzählen. Mein zukünftiger Stiefvater brachte die Geschichte meines
ganzen späteren Lebens ins Rollen: Hätte sich meine Mutter nicht in Richard
verliebt, wäre ich Miss Frost womöglich nie begegnet.
    Bevor Richard Abbott den First Sister Players beitrat, herrschte
in der Laienschauspieltruppe unseres Städtchens, was meine dominante Tante
einen »eklatanten Mangel an Männern vom Typ Hauptdarsteller« nannte. Weder gab
es richtig furchteinflößende Schurken noch junge Liebhaber mit der Begabung,
den jungen und älteren Damen im Publikum die Köpfe zu
verdrehen. Richard war nicht nur groß, dunkelhaarig und gutaussehend – er war
das fleischgewordene Klischee. Dünn war er außerdem. So dünn, dass er in meinen
Augen eine bemerkenswerte Ähnlichkeit mit meinem Codeknacker-Vater aufwies, der
auf meinem einzigen Foto von ihm für alle Zeiten dünn war – und auf ewig Eis
schleckte, irgendwo zwischen Süditaliens Küste und der Karibik. (Natürlich
fragte ich mich, ob meiner Mutter die Ähnlichkeit aufgefallen war.)
    Bevor Richard Abbott den First Sister Players beitrat, waren die
Männer in unserem Kleinstadt-Ensemble entweder verschämt
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