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In einer Person

In einer Person

Titel: In einer Person
Autoren: John Irving
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gespielt
werden. Obwohl sie zugab, dass ihr (und diversen anderen Frauen) die
zahlreichen Bühnenerfolge meines Großvaters peinlich waren, glaubte sie
dennoch, so und nicht anders müsse ein Theaterstück auf die Bühne gebracht
werden: ausschließlich von männlichen Schauspielern.
    Meiner Großmutter (ich nannte sie Nana Victoria) war es lästig, wenn
Muriel (tagelang) untröstlich war, weil sie wieder mal eine Traumrolle an
Grandpa Harry verloren hatte. Grandpa Harry hingegen erwies sich immer als
guter Verlierer, wenn seine Tochter die begehrte Rolle ergatterte. »Bestimmt
haben sie ein attraktives junges Mädchen gebraucht, Muriel – auf dem Gebiet
bist du mir einfach um Längen voraus, das muss dir der Neid lassen.«
    [31]  Ganz so sicher bin ich mir da nicht. Mein Großvater war
feingliedrig, mit hübschen Gesichtszügen; er war leichtfüßig und konnte mühelos
mädchenhaft lachen und herzerweichend weinen. Als
intrigante oder auch als zu Unrecht geschmähte Frau konnte er überzeugen, und
mit den Bühnenküssen, die er den diversen männlichen Fehlbesetzungen gab,
konnte er überzeugender sein, als meiner Tante Muriel das je gelang. Muriel
graulte sich vor Bühnenküssen, obwohl Onkel Bob keinen Einspruch erhob. Bob
fand offenbar Gefallen daran, seine Frau und seinen Schwiegervater Bühnenküsse
austeilen zu sehen – und das war auch gut so, denn sie hatten die Hauptrollen
in fast allen Inszenierungen.
    Jetzt, im Alter, weiß ich Onkel Bob mehr zu schätzen, der an vielen
Menschen und Dingen »offenbar Gefallen« fand und der mir sein
unausgesprochenes, aber tiefempfundenes Mitgefühl zuteilwerden ließ. Ich
glaube, Bob wusste sehr gut, was die Winthrops in die Familie gebracht hatten;
die Winthrop-Frauen behandelten uns andere gewohnheitsmäßig (oder waren es die
Gene) von oben herab. Bob bemitleidete mich, weil er wusste, dass Nana Victoria
und Tante Muriel (ja selbst meine Mutter) bei mir misstrauisch nach
verräterischen Anzeichen suchten, dass ich (wie alle, selbst ich, befürchteten)
der Sohn meines Hallodri-Vaters war. Sie krittelten wegen der Gene eines mir
fremden Mannes an mir herum, und Onkel Bob (vielleicht, weil er trank und
»unter Muriels Würde« war) wusste, wie es sich anfühlte, wenn die
Winthrop-Seite der Familie an einem herumkrittelte.
    Onkel Bob war für die Auswahl der Schüler an der [32]  Favorite River
Academy zuständig; da die Aufnahmebedingungen der Schule ohnehin lax waren,
wurde mein Onkel zwar nicht persönlich für den einen oder anderen Schulversager
verantwortlich gemacht. Doch wurde trotzdem an ihm herumgekrittelt; auf der
Winthrop-Seite der Familie galt er als »zu tolerant« – ein weiterer Grund für
mich, ihn wundervoll zu finden.
    Obwohl ich mich erinnern kann, dass alle möglichen Leute mir von
Bobs Trinkgewohnheiten erzählten, habe ich ihn nie betrunken gesehen – bis auf
eine spektakuläre Ausnahme. Als Jugendlicher in First Sister hielt ich das
Getue um Bobs Alkoholismus ohnehin für übertrieben; die Winthrop-Frauen waren
für ihre Übertreibungen auf dem Gebiet moralischer Entrüstung bekannt. Selbstgerechtes
Indigniertsein war ein Winthrop’scher Charakterzug.
    Im Sommer 1961, als ich mit Tom verreist war, kamen wir irgendwie
auf meinen Onkel Bob zu sprechen. (Ich weiß – von Tom war bislang noch nicht
die Rede. Haben Sie Geduld mit mir; es fällt mir schwer, über Tom zu sprechen.)
Für Tom und mich war dies der angeblich ach so wichtige Sommer zwischen
Schulabschluss und erstem Collegesemester; unsere Familien hatten uns unsere
üblichen Ferienjobs erlassen und uns die Reise spendiert. Vermutlich wurde von
uns erwartet, dem zweifelhaften Ziel der »Selbstfindung« nicht mehr als einen
einzigen Sommer zu opfern, aber Tom und mir kam das Geschenk dieses Sommers
nicht gar so weltbewegend vor, wie von dieser Lebensphase allgemein erwartet
wird.
    Zum einen hatten wir kein Geld, und es war uns schon unheimlich,
überhaupt nach Europa zu reisen; zum [33]  anderen hatten wir uns bereits
»gefunden«, und mit uns selbst klarzukommen (und gar mit anderen) war
undenkbar. Manche Aspekte unserer selbst fanden der arme Tom und ich mindestens
ebenso fremd (und unheimlich) wie das, was wir von Europa mitbekamen, so wenig
es wegen unserer Beschränktheit auch war.
    Ich kann mich nicht einmal mehr erinnern, warum wir auf Onkel Bob zu
sprechen kamen; jedenfalls wusste Tom bereits, dass ich mit
»Einer-geht-noch-Bob«, wie er ihn nannte, verwandt war.
    »Wir sind
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