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In einer Person

In einer Person

Titel: In einer Person
Autoren: John Irving
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sie meinen Penis
seit meiner frühen Kindheit nicht mehr gesehen – wenn überhaupt. Zum Wort Penis fällt mir bestimmt noch viel mehr ein. Hier muss
genügen, dass mir die Aussprache von »Penis« größte Mühe bereitet; in meiner
verquasten Diktion hört sich das »s« gelispelt an, wie »Penith« – wenn ich es
überhaupt herausbringe –, genau wie ein englisches »th«. (Den Plural umschiffe
ich weiträumig.)
    Jedenfalls ahnte Miss Frost nichts von meinen sexuellen Nöten, als
ich Große Erwartungen erneut auszuleihen versuchte.
Stattdessen vermittelte sie mir den Eindruck, bei [17]  der stattlichen Anzahl von
Büchern in der Bibliothek wäre es eine unmoralische Zeitverschwendung, auch nur
eines davon noch mal zu lesen.
    »Was ist so Besonderes an Große Erwartungen ?«,
fragte sie mich.
    Sie war der erste Mensch, dem ich erzählte, dass ich »wegen« Große Erwartungen Schriftsteller werden wollte, während es
in Wahrheit ihret wegen war.
    » Schriftsteller willst du also werden!«,
rief Miss Frost, was nicht sonderlich begeistert klang. (Jahre später sollte
ich mich fragen, ob Miss Frost das Wort Homophiler wohl ebenso ungnädig quittiert hätte, wenn ich es ihr als meinen Berufswunsch
genannt hätte.)
    »Ja, Schriftsteller – glaub ich jedenfalls«, erwiderte ich.
    »Du kannst unmöglich wissen, dass du mal Schriftsteller wirst!«, erklärte Miss Frost. »Diesen Beruf kann man sich nicht aussuchen.«
    Wie recht sie damit doch hatte, auch wenn ich das damals noch nicht
ahnen konnte. Ich legte mich nicht nur deshalb so ins Zeug, damit sie mich Große Erwartungen noch mal lesen ließ, sondern auch
(während mir besonders gefiel, dass Miss Frost nach Luft schnappte), weil sie
immer ungehaltener mit mir wurde – wobei ihre überraschend jungmädchenhaften
Brüste auf und ab hüpften.
    Jetzt, mit fünfzehn, stand es noch ganz genauso um mich wie zwei
Jahre zuvor: Ich war bis über beide Ohren in sie verknallt. Was nicht ganz
stimmt: Denn mittlerweile war ich noch viel mehr von ihr eingenommen als mit
dreizehn, als ich nur davon phantasiert hatte, mit ihr Sex zu haben und
Schriftsteller zu werden, während meine erotischen [18]  Phantasien jetzt
ausgeklügelter, detaillierter und konkreter waren und ich schon ein paar Sätze
verfasst hatte, auf die ich stolz war.
    Natürlich war weder Sex mit Miss Frost noch der Schriftstellerberuf
sehr wahrscheinlich – aber gab es nicht vielleicht doch irgendwo eine
klitzekleine Chance? Seltsamerweise war ich hochmütig genug, das anzunehmen. Wo
ich diese Anmaßung, diese Selbstüberschätzung wohl hernahm – tja, da konnte ich
nur auf Vererbung tippen.
    Und zwar nicht von meiner Mutter; ihre Rolle als Souffleuse hinter
den Kulissen hatte für mich so gar nichts Anmaßendes. Schließlich verbrachte
ich die meisten Abende mit ihr in dieser Heimstatt unterschiedlich (bis gar
nicht) talentierter Mitglieder unseres städtischen Laienensembles. Die kleine
Bühne war kein allzu stolzes, vor Selbstvertrauen strotzendes Unternehmen –
daher die Souffleuse.
    Falls mein Hochmut vererbt war, hatte ich ihn mit Sicherheit von
meinem leiblichen Vater. Es hieß, ich sei ihm nie begegnet; alles, was ich von
ihm kannte, war sein Ruf, und der klang nicht berauschend.
    »Der Codeknacker« – wie mein Großvater ihn nannte – oder, selten,
»der Sergeant«. Meine Mutter war wegen des Sergeants vom College abgegangen,
sagte meine Großmutter. (»Sergeant«, stets abschätzig betont, gab sie den
Vorzug vor »Codeknacker«.) Ob William Francis Dean direkt oder indirekt daran
schuld war, dass meine Mutter ihr Studium abgebrochen hatte, wusste ich nicht.
Stattdessen hatte sie eine Sekretärinnenschule besucht, aber erst, nachdem er
sie mit mir geschwängert hatte. In der Folge hatte meine Mutter auch diese
Ausbildung abgebrochen.
    [19]  Sie erzählte mir, dass sie meinen Dad im April 1943 in Atlantic
City, New Jersey, geheiratet hatte – ein bisschen spät für eine Mussheirat,
weil ich in First Sister, Vermont, bereits im März 1942 zur Welt gekommen war.
Ich war also ein Jahr alt, als sie ihn heiratete, und zur »Trauung« (eine rein
standesamtliche Angelegenheit) war es vor allem auf Veranlassung meiner
Großmutter gekommen – jedenfalls laut meiner Tante Muriel. Wie man mir zu
verstehen gab, war William Francis Dean eher unfreiwillig in den Stand der Ehe
getreten.
    »Noch vor deinem zweiten Geburtstag waren wir geschieden«, hatte
meine Mutter mir anvertraut. Weil ich die
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