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Morgen ist ein neuer Tag

Morgen ist ein neuer Tag

Titel: Morgen ist ein neuer Tag
Autoren: Heinz G. Konsalik
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1
    Der kleine Wartesaal dritter Klasse des Bahnhofes Fallersleben war an diesem Mai-Abend 1955 überfüllt. Eingehüllt in dicke Schwaden von Zigaretten- und Zigarrenrauch, umgeben vom Dunst von Bier, Schnaps, Schweiß und Leder, saßen abgerissene Gestalten an den kleinen, runden Tischen mit der gescheuerten hellen Holzplatte, stierten vor sich hin oder lasen in zerknitterten Zeitungen. Einige Menschen, in Decken eingerollt, lagen auf dem Boden. Rucksäcke und Koffer als Kopfkissen benutzend, schliefen sie. Ihr Schnarchen mischte sich mit dem Stimmengewirr, das durch den Saal schwirrte, und das leise Greinen müder Kinder klang wie ein klägliches Wimmern aus den Ecken und schien in der dicken Luft zu ersticken.
    An einem der Tische, nahe dem Fenster, saß ein mittelgroßer, knochiger Mann, das Gesicht braun, fast ledern, mit tiefliegenden Augen, einem mehrere Tage alten Stoppelbart und gekleidet in einen zerrissenen Anzug, dessen erdiggraue Farbe sich deckte mit der einer alten Schirmmütze, die auf seinem kahlgeschorenen Kopf saß. Seine schmutzigen Hände hielten das Glas Bier umklammert, als habe er Angst, man könnte es ihm wieder wegnehmen, und seine Blicke folgten der drallen Gestalt der Kellnerin, die flink durch das Gewirr der Wachen und Schlafenden eilte und auf Chromtabletts Bouillon-Tassen und Biere zu den Tischen trug.
    Ab und zu räusperte er sich, rieb sich mit dem Handrücken die Nase und stierte dann wieder in den Saal, streckte die Beine mit den alten, abgelatschten Schuhen aus und drehte sich dann aus Zeitungspapier und Tabakkrümeln eine dicke Zigarette. Als er sie ansteckte, stand plötzlich ein Eisenbahnbeamter vor ihm und nickte ihm zu. Erstaunt sah er zu diesem empor und umklammerte wieder mit einer ängstlich wirkenden Bewegung sein Bierglas.
    »Was ist?« fragte er, und seine Stimme klang hohl, als käme sie aus einem weiten, leeren Raum. »Was wollen Sie von mir?«
    Der Beamte lächelte ihn an und legte ihm die Hand auf die Schulter. Unwillkürlich zuckte der Fremde zusammen und schien in sich zusammenzukriechen.
    »Der Herr Stationsvorsteher möchte Sie einmal sprechen«, meinte der Beamte freundlich. »Er hat Sie vorhin aussteigen sehen. Er will Sie privat sprechen …«
    »Mich sprechen?« Der Fremde schüttelte den Kopf. »Kennt er mich denn?« Er erhob sich, nahm vom Boden sein Bündel auf, einen nur mit einer Kordel umschnürten Sack aus grober Leinwand, und schlurfte hinter dem Beamten her, der ihm vorausging und die Tür des Wartesaales für ihn aufhielt. »Hat der Iwan etwa wieder Spuk gemacht?«
    »Der Iwan?« Der Beamte sah den Fremden von der Seite her an. »Wieso denn? Ach so!« Er schüttelte den Kopf. »Nein, mein Lieber, das ist jetzt vorbei! Du bist jetzt wieder in der Heimat, Kamerad.«
    »Kamerad …« Der Fremde lächelte vor sich hin. »Das ist ein schönes Wort, mein Lieber – man lernt es ehren und achten … draußen, im Ural, in den Bleibergwerken …«
    Sie gingen durch einen zugigen Flur, vorbei an grellen Plakaten, die mit schönen Worten die Vorteile der verschiedenen Bäder und Kurorte priesen, und erreichten eine braune Tür, die der Beamte öffnete. Im Raum, in welchem auf einem Tisch ein Fernschreiber und eine Reihe Telefone standen, kam ihnen ein Mann mit einer roten Schirmmütze entgegen.
    Der Fremde blieb stehen. Er schaute sich um, aber der Beamte, der ihn hergeführt hatte, war schon wieder aus dem Zimmer gegangen. Ein wenig unsicher sah er den Stationsvorsteher an, der ihn ohne ein Wort zu einem Sessel führte und in die Polster drückte.
    »Zigarette?« fragte der Stationsvorsteher dann und hielt dem Fremden eine Schachtel hin.
    »Danke.« Der Fremde nahm sich eine heraus und zündete sie an. In tiefen, fast durstigen Zügen rauchte er eine Weile stumm, ehe er aufschaute und den Kopf schüttelte. »Was soll das?« fragte er erstaunt.
    »Ich habe Sie beobachtet«, erwiderte der Stationsvorsteher. »Als Sie aus dem Zug von Helmstedt stiegen, dachte ich mir: Das ist ein Heimkehrer. Der hat Rußland hinter sich … die Hölle der Gefangenschaft … Und jetzt kommt er, jetzt … jetzt, nach 10 Jahren …«
    »Nach 12 Jahren«, unterbrach ihn der Fremde. »Ich kam schon 1943 in Gefangenschaft. Bei Orscha. War dann in Sibirien, am Eismeer, im Ural, in Moskau …« Er machte eine wegwerfende Handbewegung, als wolle er die Erinnerung löschen.
    »Schwamm drüber. Hauptsache, man ist wieder in der Heimat.«
    »Sie haben Verwandte?« fragte der Beamte und
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