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Raue See

Raue See

Titel: Raue See
Autoren: Ralph Westerhoff
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durch sein verschwitztes Gesicht fuhr. »Du würdest mir doch die Eier abschneiden, wenn ich dich freiließe.«
    Er holte sein Kampfmesser und stach wie im Rausch auf sie ein. Jeder Stich eine Befreiung. Jeder Hieb ein Schrei. Ihr vor Schmerz zu einer bizarren Fratze entstelltes Gesicht hatte eine befreiende Wirkung auf ihn. Ihre Schreie waren Genugtuung für alles, was sie ihm angetan hatte. Doch irgendwann hörte sie auf zu schreien. Ihr Körper zuckte nicht mehr, die Ströme von hellem Blut versiegten. Es war vollbracht.
    Er fing wieder an, rational zu denken. Der Hass war weg. Ein ganz anderes Gefühl machte sich in ihm breit. Von der Vorfreude, die er in der Planungsphase empfunden hatte, war nichts geblieben. Ihn beschlich Angst. Vielleicht würde man ihn erwischen. Das musste er verhindern.
    Er hatte unterschätzt, wie schwer eine Leiche zu transportieren war. Dass er Spuren hinterlassen könnte, obwohl er die gesamte Winterfutterstation mit dicker Malerfolie ausgelegt hatte. Was sollte er der Polizei sagen, wenn sie die Leiche doch fänden? Die Angst mutierte zu Panik. Auch eine Zigarette konnte ihn nicht beruhigen.
    Als er schon weglaufen wollte, kam ihm die rettende Idee. Es gab jemanden, der ihm helfen konnte. Jemanden, der ihn verstand. Wie einfach das Leben doch sein konnte.

EINS
    Er schrie wie am Spieß. Er wälzte sich von links nach rechts. Diese Qual dauerte schon über eine Stunde. Die Spieluhr konnte noch so oft »La, le, lu« leiern, Jonas wollte sich einfach nicht beruhigen. Hunger hatte der sechs Monate alte Säugling nicht, denn Wiebke hatte schon mehrfach erfolglos versucht, ihm die Brust zu geben. Eigentlich ein Wundermittel, das aber heute völlig versagte.
    »Vielleicht sitzt ihm nur ein Furz quer«, versuchte sich Günter in Humor.
    »Wenn du’s besser kannst, kümmere du dich doch um ihn«, fauchte sie.
    »Dann würde er verhungern«, sagte er mit einem Fingerzeig auf seine Brust.
    »Du willst mir doch wohl nicht vorwerfen, dass ich mich für das Stillen entschieden habe?« Wiebkes Stimme hatte einen gefährlichen Unterton.
    »Ich wiederhole nur, was Frau Dr.   Steinmeier bei der letzten Untersuchung gesagt hat. Ab diesem Alter ist Stillen nur noch Vitamin ›L‹.«
    »Hä? Was soll sie gesagt haben?«
    »Sie sagte, das Stillen sei in der Entwicklungsstufe, in der sich Jonas befindet, nur Vitamin Liebe. Eine Notwendigkeit würde nicht bestehen.«
    »Du musst es ja wissen.«
    »Ich wiederhole nur die Meinung unserer Kinderärztin.«
    »Die wissen auch nicht immer alles.«
    Günter kapitulierte. Es war sinnlos, dieses Thema zu vertiefen. »Es ist jetzt jedenfalls drei Uhr, und ich habe morgen Sitzungstag. Ich muss schlafen«, merkte er an.
    »Meinst du, ich nicht?«
    »Du kannst dich morgen irgendwann hinlegen.«
    »Du glaubst auch, ich sitze den ganzen Tag faul rum, während du dir den Hintern abarbeitest.«
    »Das habe ich nicht gesagt.«
    »Aber gemeint.«
    Jonas, der nur kurz verstummt war, um neue Kraft für die nächste Unmutsbekundung zu sammeln, unterbrach die Auseinandersetzung mit einem neuerlichen Schreianfall. Wiebke nahm ihn auf den Arm und wiegte ihn zärtlich. Sein Atem beruhigte sich ein wenig. Günter beobachtete die Szene argwöhnisch. Er spürte, dass ihm dieses kleine Wesen zunehmend seine Frau wegnahm. Eigentlich hatte Jonas schon vor seiner Geburt damit angefangen. Günter begann insgeheim, dem Kind Vorwürfe zu machen, und schämte sich gleichzeitig für die Lächerlichkeit dieses Gefühls.
    »Du hättest ja auch in die Elternzeit gehen können«, sagte Wiebke jetzt leise, aber schnippisch. Jonas war zwar noch wach, schrie aber wenigstens nicht mehr. Sie legte ihn ab und schaukelte sanft die Wiege. Günter merkte, wie sehr sie sich beherrschen musste, um ihn nicht anzubrüllen.
    »Wir haben uns doch beide für das Kind entschieden«, erwiderte er bewusst sachlich. »Wir waren beide gegen eine Nanny von der ersten Woche an. Und es wäre ökonomischer Unsinn gewesen, wenn ich mit A 16 in die Elternzeit gegangen wäre und wir mit deinem A 11 auskommen müssten.«
    »Ah, typisch: Jetzt kehrt der Herr Oberstaatsanwalt wieder seinen Dienstgrad raus.«
    »Das habe ich nicht gesagt.«
    »Aber gemeint.«
    »Schluss jetzt«, sagte er. »Ich gehe ins Bett. Weil ich schlafen muss. Ende der Debatte.«
    »Ende ist irgendwie ein gutes Stichwort«, nuschelte Wiebke.
    »Was hast du gesagt?«
    »Nichts!«, zischte sie.
    An Schlaf war nicht zu denken. Er wälzte sich im Bett hin und
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