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Raue See

Raue See

Titel: Raue See
Autoren: Ralph Westerhoff
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gesagt. Von dort könne man ja sehen, wo es hinginge. Er hätte da schon eine gute Idee. Sie hatte unbedingt wissen wollen, wohin es denn gehen würde. »Nein«, hat er geantwortet, »das soll eine kleine Überraschung werden.«
    Hinter ihr erhob sich das neoklassizistische Gebäude, das mal als Hauptsitz der IG Farben errichtet worden war. Irgendwann in den Neunzigern hatte es die Universität gekauft. Heute diente es der Forschung und Lehre, wie sie dem Schild am Gebäude entnommen hatte. Normalerweise wuselten deshalb unzählige Studenten über das parkähnliche Gelände. Doch jetzt, an einem Freitag um neunzehn Uhr, huschten nur noch wenige aus dem majestätischen Gebäude in Richtung Wochenende.
    Sie richtete ihren Blick auf das Haupttor. Er musste zu Fuß kommen, denn das Gelände durften nur Professoren befahren. Und das war ihr Marcus nun nicht. Exportleiter sei er, hatte er geschrieben. Was und wofür das auch immer war.
    Ein Taxi hielt vor dem Haupteingang. Ob er sie damit abholte? Der Fahrer stieg aus, sah sich suchend um und kam auf sie zu. Der Mann war ihr auf den ersten Blick unsympathisch. Seine Haare wirkten fettig, und seine Kleidung war unmodern.
    »Entschuldigung«, sagte der Mann. »Sie sind doch Yvonne, oder?«
    »Ja«, antwortete sie. »Warum?«
    Der Mann zeigte ihr ein Foto. Das war das Bild, das sie Marcus geschickt hatte. Was machte dieser schmierige Fahrer damit?
    »Woher haben Sie das?«, fragte sie in einer Stimmlage irgendwo zwischen Verwirrung und Verärgerung.
    Der Mann lächelte. »Einen schönen Gruß von Marcus Ringier«, sagte er und gab ihr eine Visitenkarte, die sie automatisch nahm. »Sein Flieger hat ausgerechnet heute vier Stunden Verspätung. Er landet erst in einer Viertelstunde, wollte Sie aber nicht versetzen. Also hat er Ihr Foto an sein Büro gemailt. Seine Sekretärin hat es ausgedruckt und mich angerufen, damit ich Sie hier abhole. Ich soll Sie dorthin bringen, wohin er Sie entführen wollte. Wenn er erst vom Flughafen herkäme, um Sie selbst abzuholen, würde es viel zu spät werden. Das soll ich Ihnen ausrichten.«
    Yvonne war verunsichert. Doch die Geschichte hatte Hand und Fuß. Woher sollte der Taxifahrer sonst die Karte und das Foto haben, wenn nicht von Marcus? Außerdem war es doch richtig süß, wie er sich bemühte. Jetzt versau’s nicht gleich beim ersten Date, dachte sie und gab sich einen Ruck. Mit einem Nicken in Richtung des Fahrers ging sie auf das Taxi zu. »Dann mal los«, sagte sie und lächelte.
    Der Fahrer öffnete die Tür zum Fond des Mercedes, und Yvonne nahm Platz. Wie aus dem Nichts hielt ihr der Fahrer etwas vor die Nase. Chloroform, dachte sie noch, dann wurde ihr schwarz vor Augen.
    Der Pförtner öffnete dem Taxi freundlich grüßend die Schranke. Der Mann gab lächelnd Gas. Der Taxitrick war gut. Allerdings konnte er ihn nicht so oft anwenden. Er musste dafür jedes Mal einen Fahrer betäuben. Der wurde dann irgendwann wach, und man suchte das Taxi. Wenn das in ein und derselben Stadt zu häufig vorkam, wurde die Polizei aufmerksam.
    Aber auch ohne den Taxitrick hatte er es recht bequem. Das Internet hatte es für ihn in den letzten Jahren viel einfacher gemacht. Früher hatte er wochenlang die Wege des Opfers auskundschaften, ihm auflauern und es hinterrücks überwältigen müssen, immer in der Gefahr, dabei erwischt zu werden. Er hatte immer Glück gehabt, aber jetzt war das ganze Prozedere nicht mehr notwendig. Er konnte ganz in Ruhe mit seinen Opfern plaudern, bis sie Vertrauen gewonnen hatten. Besonders stolz war er auf seine Fotomasche. Immer wollten sie irgendwann ein Foto. Und da waren alle gleich. Sie wollten einen Mann, der aussah wie George Clooney, reich war wie Rockefeller, intelligent wie Einstein, durchsetzungskräftig wie ein Bataillon, verständnisvoll wie ein Psychologe und dabei potent wie ein Pornodarsteller. Er war nichts davon. Doch mittels Photoshop konnte er Fotos von solchen Männern so verändern, dass sie niemandem mehr ähnlich, aber immer noch begehrenswert waren.
    Er musste sich beeilen. Der Fahrer dieses Taxis würde bald das Bewusstsein wiedererlangen. Er fuhr zu dem Waldstück, in dem er sein Auto abgestellt hatte, und lud seine Fracht um. Damit sie während der sechs Stunden, die er bis zur Ostsee brauchte, nicht wach wurde, spritzte er ihr ein starkes Sedativum. Dann wuchtete er sie in den Kofferraum seines Wagens und deckte sie sorgfältig ab, damit man sie bei einer Kontrolle nicht entdeckte. Man
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