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Raue See

Raue See

Titel: Raue See
Autoren: Ralph Westerhoff
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damit enden, dass er unter unsäglichen Schmerzen lebendig begraben wurde?
    Der Mann hatte ihm seine Armbanduhr gelassen. Eine aus Gelbgold gefertigte Rolex Datejust im Wert von über zehntausend Euro. Um Geld ging es dem Mann, der über ihm das Grab zuschaufelte, wohl nicht. Deshalb konnte es der, den er zunächst im Verdacht gehabt hatte, nicht sein. Außerdem brauchte derjenige ihn doch.
    Die Uhr glänzte im Schein der Lampe. Seine Hände waren vor seinem Bauch gefesselt. Er konnte die Uhr lesen. Er sollte die Uhr lesen können. Sie zeigte zwei Uhr siebenundfünfzig. Ob es Tag war? Oder war es Nacht? Unsinn. Es war Nacht. Es war jetzt also zwei Stunden her, dass der Mann ihn auf der alten Neptun Werft überwältigt hatte. Außerdem: Wer würde ihn schon am Tage begraben, wo jeder zusehen konnte? Aber … warum denn eigentlich nicht am Tage? Wer so verrückt war, jemanden lebendig zu begraben, der würde es vermutlich auch am Tage tun.
    Warum? Die Frage quälte ihn. Warum wollte ihn der Mann auf so bestialische Weise töten? Warum nur? Tränen schossen ihm in die Augen. Warum denn nur?
    Er war kein guter Mensch, einverstanden. Und wenn es dieser Verrückte da oben denn unbedingt wollte, würde er auch bereuen.
    Er hatte den Irren nicht erkannt, der ihm aufgelauert und ihn betäubt hatte. Ob es doch er war? Er würde ihn fragen. Jetzt. Doch der Knebel in seinem Mund würgte ihn. »Hmm! Hmm!« war das Einzige, was er hervorbrachte.
    Das Babyfon schwieg.
    Die Luft in dem engen Gefängnis war stickig. Wie lange würde der Sauerstoff reichen? Er korrigierte sich selbst. Das Problem war nicht der Sauerstoff. Es war das vom Körper selbst produzierte Kohlendioxid. Das Gas war zwar an sich nicht giftig, das wusste er. Aber irgendwann wäre in dem Sarg einfach zu viel davon. Er brachte sich gewissermaßen selbst um, weil sein Stoffwechsel aus dem Sauerstoff Kohlendioxid machte. Er würde ersticken. Langsam, quälend, aber sicher.
    Der Sarg hatte etwa einen Kubikmeter Volumen. Vielleicht etwas mehr. Die tödliche Konzentration an Kohlendioxid wäre in zwei Stunden erreicht, schätzte er. Spätestens in einer Stunde würde er das Bewusstsein verlieren. Sobald er einschliefe, wäre es vorbei. Er wurde jetzt schon müde. Nein, nicht einschlafen! Er hielt sich krampfhaft wach. Vielleicht würde man ihn noch rechtzeitig finden. Vielleicht.
    Bitte, bitte, lass es geschehen, dass man mich findet, dachte er in Panik. Lieber Gott, bitte! Ja, ich habe schon Jahrzehnte nicht mit dir gesprochen. Jetzt flehe ich dich an. Lass mich hier nicht so verrecken. Nicht so jämmerlich ersticken in einem von innen beleuchteten Sarg. Bitte, bitte, bitte!
    Die Luft wurde immer schlechter. Es stank. Er roch seinen eigenen Schweiß. Er roch seinen Urin. Er roch seine Fäkalien. Er hatte sich vor Angst in die Hosen gemacht. Er schämte sich. Ja, auch im Angesicht des baldigen Sterbens, vielmehr des Verreckens war es ihm peinlich, dass er gepinkelt und seinen Schließmuskel nicht mehr unter Kontrolle hatte.
    Der Mann über im schien mit der Arbeit fertig zu sein. Die immer noch glänzende Datejust zeigte drei Uhr vierzehn. Das Babyfon knarrte wieder.
    »Du hattest Gelegenheit, zu bereuen. Nach meinen Berechnungen müssten in den nächsten dreißig Minuten die ersten Bewusstseinsstörungen auftreten. Bereue, du Abschaum! Bereue, solange du es noch kannst! Bereue! Bereue!«
    Dann war wieder Stille.
    Das Babyfon gab kein Geräusch mehr von sich. Trotz Knebel versuchte er verzweifelt zu flehen, jammern und betteln. Vergebens. Niemand hörte ihn. Um drei Uhr neunundvierzig wurde ihm endgültig schwarz vor Augen. Er sah sich durch einen langen Tunnel gehen. Er ging immer schneller, denn am Ende des Tunnels sah er ein helles, gleißendes Licht. Stimmen riefen ihn. Er folgte dem Licht. Da wollte er hin. Zu den Stimmen, die ihn lockten. Immer dem Licht nach.
    Um drei Uhr vierundfünfzig war er erstickt.
    Sein Mörder war sich sicher, dass man die Leiche nie finden würde. Und selbst wenn. Ihn würde man nie fassen.
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