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Das Unglueck Mensch (Darwin's Failure)

Das Unglueck Mensch (Darwin's Failure)

Titel: Das Unglueck Mensch (Darwin's Failure)
Autoren: Madeleine Puljic
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Prolog
     
    Als Tare das Dach des N4-Centers betrat, hatte der Sonnenuntergang bereits begonnen. Die Staubpartikel in der Luft brachen das blaue Licht, sodass nur ein warmes, rotes Leuchten übrig blieb, das den Boden unter ihren Füßen zum Glühen brachte und ihren Schatten scharf und schwarz auf den Beton warf. Neben dem Regierungssitz war das Center das einzige Gebäude, das hoch genug war, um den Anblick dieses Naturschauspiels zu ermöglichen.
    Irgendwie war dieser Umstand passend, fand Tare. Und ironisch zugleich, denn das N4 war der Ursprung des künstlichen Lebens. Das Ende alles Natürlichen.
    Sie sah hinunter auf den gelblichen Smog, unter dem sich die Stadt Noryak verbarg. Noryak erstickte sich selbst, und das nicht nur in Schmutz und Abgasen. Allmählich presste die Stadt das Leben aus sich heraus, vernichtete dabei gleichermaßen Menschen und Menschlichkeit.
    Die unfüllbare Leere, die sich in Tare ausgebreitet hatte, war nur einer der unzähligen Beweise dafür. Ihre Hand legte sich tastend auf ihren Bauch, in dem bis vor kurzem noch ein Leben herangewachsen war.
    Doch ein einzelnes Leben hatte seinen Wert verloren in einer Welt, in der der Mensch sich selbst zum Gott erhoben hatte.
    Tare lehnte sich über die Brüstung, die sich ihr kalt und unnachgiebig in den Körper drückte. Zwischen dem Zug der Schwerkraft und dem Widerstand der Brüstung balancierend, beobachtete sie stumm die Wirbel, die sich unaufhörlich in den Smogwolken bildeten, nur um sich gleich darauf wieder aufzulösen. So vergänglich war der Traum des Daseins – noch ehe etwas richtig entstehen konnte, wurde es bereits vernichtet.
    Tropfen fielen in die Tiefe. Erst nach einigen Sekunden wurde Tare bewusst, dass es ihre eigenen Tränen waren, die sich einen Weg aus ihrer geschundenen Seele und ihrem verletzten Körper bahnten.
    Nur ein kleiner Eingriff. So schnell vorbei.
    Keine bleibenden Schäden, hatte ihr Vater versprochen. Mero hatte ihre Hand gehalten und ihr zugeflüstert, sie würden sich bald ein richtiges Kind machen lassen können. Gespart hätte er schon für die Optimierung.
    Nur ein kleiner Eingriff, und ein Leben war ausgelöscht.
    Ein Leben, das sie in sich getragen hatte. Das sie hätte beschützen müssen.
    Das man ihr ohne zu fragen gegeben und dann einfach wieder genommen hatte.
    Erneut strich eine ihrer Hände unbewusst über ihren Unterleib, während sich die zweite um das Metall der Brüstung schloss.
    Die Sonne versank im Nebel der Stadt, ohne jemals darunter anzukommen. Auch das Sonnenlicht war etwas, das den Menschen gestohlen worden war, wie so viele Dinge, die Freude schaffen konnten. Selbst hier oben hatte es bereits eine schmutzige Färbung – bis zum Boden konnte kein Sonnenstrahl mehr durchdringen. Graues Zwielicht war alles, was ihnen dort unten geblieben war.
    Tare sah in den Smog, der aus dieser Höhe seinen langsam siechenden Tod als weiche Wolken tarnte. Angeblich hatten die Priester den Menschen vor langer Zeit weisgemacht, dass Verstorbene von solchen Wolken aus auf ihre Hinterbliebenen herabschauten. Damals hatten sie wahrscheinlich nicht geahnt, dass der Mensch irgendwann selbst darüber stehen würde. Heutzutage erzählten sie nur noch, dass der Tod alles Leid von einem nahm, und das glaubte Tare ihnen sogar.
    Trotzdem war der Gedanke tröstlich, dass ihr Kind nicht in einer Petrischale zersetzt worden war, sondern irgendwo auf sie wartete. Ihr verziehen hatte.
    Als der letzte Sonnenstrahl in der Stadt verschwunden war, schloss Tare die Augen und atmete noch einmal tief durch. Dann tat sie einen Schritt ins Leere.
    Den Schritt zu ihrem Kind.
     
     

1. Kapitel
     
    Zehn kleine Füße, die in den grünen Stoffpantoffeln der Novizen steckten, huschten nahezu lautlos durch die verwinkelten Gänge der Abtei. Roben raschelten, als fünf angespannte Gesichter versuchten, gleichzeitig um die Ecke zu lugen, die in die nüchterne Eingangshalle führte. Lorio, der Jüngste unter ihnen, musste die Hand auf den Mund pressen, um sein aufgeregtes Keuchen zu unterdrücken.
    Niemand durfte sie erwischen, wenn sie nicht eine Strafe riskieren wollten. Doch die Neugier war größer als die Angst vor einem schmerzenden Rücken. Das Novizendasein war nicht gerade von Abwechslung geprägt und auf dem kühlen Steinboden der Eingangshalle drängten sich in diesem Moment sieben Neuankömmlinge zur Ausmusterung.
    Meister Seru schritt die Reihe mit ernster Miene ab. Neben der Leitung des Klosters war er auch für die
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