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Das Unglueck Mensch (Darwin's Failure)

Das Unglueck Mensch (Darwin's Failure)

Titel: Das Unglueck Mensch (Darwin's Failure)
Autoren: Madeleine Puljic
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leise Rascheln zu hören war, das seine Zimmergenossen ankündigte, zögerte Atlan keine Sekunde lang. Entschlossen schob er das kleine Buch unter sein Kissen.
    Er hatte in den vergilbten Seiten einen Schatz entdeckt, der weit über ihren materiellen Wert hinausging.
     
    Es hatte ihn acht Tage gekostet, in denen er jede Pause zwischen seinen Aufgaben nutzte, um das Kloster systematisch nach der Abbildung aus dem Buch zu durchsuchen. Mehr als einmal war er deswegen zu spät im Unterricht oder der ihm zugeteilten Arbeit erschienen und hatte die Strafe ertragen müssen, doch er hatte nicht aufgegeben. Und es hatte sich gelohnt.
    Das verblasste Wandbild strahlte nichts von der magischen Stimmung aus, die die Zeichnung im Buch besessen hatte, aber Atlan befriedigte allein Tatsache, dass er es gefunden hatte. Es war, als wäre er in ein Geheimnis eingeweiht worden, dessen Tiefe er noch nicht zur Gänze erfasst hatte.
    Aus den Augenwinkeln bemerkte er eine Bewegung. Schuldbewusst zuckte er zusammen, doch Ramin gesellte sich nur in seiner stillen Art zu ihm, als wäre nichts Ungewöhnliches an dem untätigen Herumstehen eines Novizen, obwohl es mitten am Tag war.
    Eine Weile betrachteten sie gemeinsam den bunten Farbdruck. Dann brach der Priester das Schweigen.
    „Früher“, erklärte er, „glaubten die Menschen, Gott hätte einen Sohn gezeugt und ihn auf die Erde geschickt, um unter den Sterblichen zu leben.“
    Staunend betrachtete Atlan erneut die leblosen Züge des Mannes, die von aufgemaltem Blut entstellt waren.
    „Das ist Gottes Sohn?“
    Ramin nickte. „Und seine Mutter.“
    Ein kalter Knoten ballte sich irgendwo tief in Atlan zusammen.
    „Was ist mit ihm geschehen?“, flüsterte er, von plötzlicher Ehrfurcht gepackt.
    „Er wurde hingerichtet. Von den Menschen, die er hätte erlösen sollen.“
    Ramin sah auf seinen Novizen herab. Den entsetzten Ausdruck auf dessen Gesicht sehend, fügte er hastig hinzu: „Aber wie gesagt, diese Geschichte ist alt und vergessen. Gott hatte keinen Sohn, Atlan. Er ist ein Schöpfer, kein Vater. Es ist nur eine Geschichte.“
    Der Priester hatte sich bereits zum Gehen gewandt, doch Atlan hielt ihn zurück.
    „Wenn es nur eine Geschichte ist, Ramin … Warum ist dann dieses Bild hier?“
    „Als Erinnerung, mein Junge. Wenn der Mensch vergisst, woher er kommt, wird selbst ein Gott sterblich.“
     
    In dieser Nacht kam der Traum zum ersten Mal.
    Die Mutter des Gottessohnes bei ihm. Ihr schönes Gesicht war nicht länger von Schmerz verzerrt, sondern gütig und warm. Sie hielt seine Hand und führte ihn durch verwinkelte, düstere Straßen.
    Dank der vorahnenden Art, die Träumen eigen ist, wusste er, wie bedrohlich dieser Ort war. Aber mit ihr beschützend an seiner Seite fühlte er keine Angst. Nur kindliche Freude war es, die seine Schritte beschleunigte.
    Sie kamen in eine enge Sackgasse. Er sah sich aufmerksam um, konnte jedoch keinen Ausweg erkennen. Dann deutete sie auf einen schmalen Durchlass, der in der Dunkelheit kaum auszumachen war.
    Er zögerte, eingeschüchtert von der Schwärze, die dahinter lauerte. Trotz der warmen Hand, die seine eigene umfasst hielt, konnte er die Kälte fühlen, die aus dem Loch in der Mauer kroch.
    „Was ist das?“, fragte er. „Wohin führst du mich?“
    „Nach Hause“, kam die Antwort, die ihn auch Jahre später noch schweißgebadet aus dem Schlaf schrecken ließ.
     
    „Was ist drin?“ Niove prüfte die kleine, kunstvoll verpackte Schachtel mit einem zweifelnden Blick aus ihren tiefgrünen Augen, ehe sie mit der gesamten Kraft einer Sechsjährigen daran zu rütteln begann.
    Ihr Vater stieß einen entsetzten Schrei aus, doch Erran war schneller. Mit Leichtigkeit entwand er seiner Schwester das Geschenk und hob es über seinen Kopf.
    Halbherzig versuchte Niove, danach zu greifen, aber ihre bereits erwachsenen Brüder hatten zu oft schon Späße auf diese Art mit ihr getrieben. In dem einen Jahr, das sie inzwischen bei ihrer Familie verbracht hatte, hatte sie die Erfahrung gemacht, dass sie auf diese Weise nicht an das Gewünschte herankommen würde. Also griff sie ohne zu Zögern zur erfolgversprechendsten Methode: Ihre Augen begannen, feucht zu schimmern, und ihre Unterlippe zu beben.
    Langsam senkte Erran die Arme mit der verlockenden Schachtel herab, zog sie aber wieder hoch, sobald das hüpfende Kleinkind in Reichweite zu kommen drohte.
    Sofort hörte das Springen auf und die ersten Tränen rollten über rosige Wangen.
    Er
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