Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Unglueck Mensch (Darwin's Failure)

Das Unglueck Mensch (Darwin's Failure)

Titel: Das Unglueck Mensch (Darwin's Failure)
Autoren: Madeleine Puljic
Vom Netzwerk:
Ausbildung der Novizen verantwortlich, und er nahm seine Aufgaben ernst. Sehr ernst. Eine dünne Rute aus biegsamem Kunststoff klopfte bei jedem seiner bedächtigen Schritte leicht an seinen Schenkel. Am Ende der Reihe angekommen, wandte er sich abrupt dem ersten Kind zu.
    Der Junge war genauso verschmutzt und zerzaust wie die anderen und konnte nicht älter als sechs oder sieben Jahre alt sein. Die plötzliche Bewegung und Aufmerksamkeit des Meisters ließ ihn erschrocken zusammenzucken. Seru legte die Rute unter das Kinn des Kindes, um sein Gesicht anzuheben und inspizieren zu können. Sofort begann die Lippe des Jungen zu beben. Aber von Tränen ließ Seru sich nicht beeindrucken.
    Mit geübtem Blick prüfte er das Kind auf Krankheiten, Gebrechen und Ungezieferbefall, ehe er mit einem Nicken sein Einverständnis gab und sich dem nächsten Kandidaten zuwandte – einem schmächtigen Bürschchen, das ständig blinzelte. Hier genügte ein kurzer Blick und ein Kopfschütteln, und die verhüllte Gestalt, die bisher in den Schatten gestanden hatte, nahm den Jungen an der Schulter. Sie zog ihn aus der Reihe, während Seru sich bereits dem nächsten widmete.
    Der vierte Junge wurde ebenfalls aus der Reihe genommen. Als Seru beim sechsten Kind angelangt war, hob er eine einzelne Augenbraue. Auf seinem abgehärmten Gesicht flackerte kurz ein Hauch von Interesse, der jedoch sofort durch tiefe Missbilligung verdrängt wurde.
    „Wie ist dein Name?“
    Das überraschte Kind hörte auf zu schniefen und starrte ihn aus rotgeweinten Augen an. Auch der Priester, der die Neulinge auf der Straße aufgelesen und hereingebracht hatte, schnappte hörbar nach Luft. Der Meister sprach bei solchen Gelegenheiten eigentlich nie. Wenn er es tat, bedeutete es meist nichts Gutes.
    Nur der Verhüllte schwieg unbeeindruckt weiter.
    „Was ist, Kind? Kannst du etwa nicht reden? Wie dein Name ist, habe ich dich gefragt!“
    Die Rute schlug klatschend auf den Boden. In ihrem Versteck schraken die Novizen zusammen, in Erinnerung an den Schmerz, den dieser Laut mit sich brachte.
    „Aaa…“
    Ein erneutes Klatschen. Die Augen des Kindes zuckten hilflos zwischen der Rute und dem kalten Blick des Meisters hin und her.
    „A-Ariat, Herr!“, stieß es hervor, erleichtert, die gewünschte Antwort herausgepresst zu haben.
    Serus bisher kalte Züge verzogen sich zu einem Grinsen, das allerdings keineswegs beruhigend wirkte. Eher machte es den Anschein, als würde er gleich den Mund öffnen, um das Häufchen Elend vor sich in einem Stück zu verschlingen.
    „Ramin.“
    Obwohl die Stimme des Meisters völlig ruhig blieb, erstarrte der angesprochene Priester augenblicklich. Vielleicht auch gerade deshalb.
    „Meister Seru?“
    „Du bist doch ein gebildeter Mann, nicht wahr?“
    „Meister?“
    „Antworte!“ Diesmal traf die Rute nicht Stein, sondern den Schenkel des Priesters.
    Ramins Verwirrung wich Unsicherheit. Er wusste nicht, worauf Seru hinaus wollte. Egal, welche Antwort er geben würde, es konnte nur die falsche sein.
    „Ich … ich habe die Lehren des Glaubens mein Leben lang studiert, Meister.“
    „Und in den Lehren hast du keinen Anhaltspunkt darüber gefunden, wie man ein Mädchen von einem Burschen unterscheidet?“
    Schreck weitete Ramins Augen, als er seinen Fehler erkannte. Schnell kämpfte er den Drang nieder, das Kind noch einmal anzusehen. Er wagte es nicht, die Augen von Seru zu nehmen.
    „Nein, Meister.“ Das Zittern in seiner Stimme konnte er nicht so leicht bezwingen.
    Die Rute zog eine Spur aus glühendem Schmerz durch sein Gesicht. Ramin konnte warmes Blut seine Wange hinab fließen fühlen, aber er untersagte sich jede Reaktion.
    Ohne den Blick von seinem Priester zu nehmen, sprach Seru den Verhüllten an.
    „Nimm sie mit.“
    „Und der letzte Junge?“
    Die Worte des Verhüllten klangen tief und kratzend, wie sprödes Holz, das bei jeder Benutzung zu brechen droht.
    Serus Augen verweilten für einen kurzen Moment auf dem vor Erschöpfung weinenden Kind. Dem Aussehen nach war es noch keine vier Jahre alt.
    Er würde sich gut formen lassen.
    „Lass ihn hier.“
    Ohne ein weiteres Wort wandte sich der Meister um und verließ den Raum.
    Die Novizen wären in ihrer Eile fast gestürzt, als sie sich im letzten Augenblick in Sicherheit brachten.
     
    „Atlan? Los, beeil dich! Ich habe keine Lust, deinetwegen das Abendessen zu versäumen.“ Lorios Stimme brach sich zwischen den hohen Regalen, in denen sich in endlosen Reihen
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher