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Die indische Erbschaft

Die indische Erbschaft

Titel: Die indische Erbschaft
Autoren: Horst Biernath
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1.

    Der Wecker rasselte. Es klang wie gedämpfter Trommelwirbel, denn Martha hatte um den Glockenklöppel ein Stückchen Heftpflaster geklebt. Sie war sofort hellwach, streckte den Arm aus und fand mit einer Sicherheit, die auf langjährige Gewohnheit schließen ließ, den Sperrknopf, der das Läutwerk des Weckers zum Verstummen brachte. Wilhelm Ströndle, ihr Mann, stieß einen schlaftrunkenen Seufzer aus und murmelte ein paar unartikulierte Laute, die keineswegs wie eine freudige Begrüßung der Morgenstunde und des jungen Tages klangen. Seine weiß überzogene Wolldecke war halb aus dem Bett gerutscht. Martha zog sie ihm über die Brust, dann angelte sie nach ihren Hausschuhen und schlüpfte in ihren geblümten Morgenrock. Daß sie schon vierundvierzig war und drei erwachsene Kinder hatte, sah man ihr nicht an. Sie war noch immer eine fesche Person.
    Stets war sie von ihrer Familie als erste auf den Beinen. Daß sie den Wecker heute auf sechs Uhr gestellt hatte, eine gute halbe Stunde früher als sonst, hatte einen besonderen Grund. Als sie heiratete, gab sie ihre Stellung als Verkäuferin in dem Textil- und Wäschehaus Gebrüder Sebald auf. Aber wenn dort Inventurausverkäufe, Weiße Wochen oder Sommerschlußverkäufe Personalschwierigkeiten mit sich brachten, dann half Martha bei ihrer alten Firma aus und stellte sich auf ihrem früheren Platz in der Modenabteilung dem Ansturm der Käuferinnen entgegen. Und heute war es wieder einmal soweit, die Zeit des Pfingstverkaufs war gekommen.
    Wilhelm Ströndle sah es nicht allzu gern, daß seine Frau diese Gelegenheiten wahrnahm, sich ein Taschengeld zu verdienen. Den wahren Grund, weshalb er sich gegen den Strich gebürstet fühlte, gab er nicht zu: daß er nämlich ihre hartnäckige Beflissenheit, sich diesen Nebenverdienst zu erhalten, als Vorwurf empfand, auf der Sprossenleiter des Erfolges allzu tief hängengeblieben zu sein. Er war Mahnbuchhalter einer Lebensmittelgroßhandlung, und das bedeutete, daß Martha jedesmal, wenn sich der Monat seinem Ende näherte, vor fast unlösbaren Rechenaufgaben stand.
    Die Wohnung der Ströndles lag im zweiten Stockwerk eines großen, neuerbauten Mietshauses. Sie bestand aus zwei Zimmern, einer geräumigen Kammer und der Küche. Die beiden Mädel, Charlotte und Christa, schliefen in der Kammer, die mit zwei Betten, einem weißgestrichenen Schrank und einem Klapptisch am Fenster bereits überreichlich möbliert war. Der einundzwanzigjährige Werner mußte mit einer Chaiselongue als Lagerstatt in der Küche zufrieden sein. Seine Bohrversuche, ihn auf der hübschen grünen Couch im Wohnzimmer schlafen zu lassen, waren ohne Erfolg geblieben. Dieses Wohnzimmer war nicht nur Marthas Stolz. Seine mühsam erworbene, fast elegante Einrichtung, die zartgrünen Fenstervorhänge mit den gegitterten Tüllstores, die bequemen Sessel und die breite resedenfarbige Couch gaben der ganzen Familie das Gefühl sozialer Gehobenheit, wenn sie am Abend hier Romme spielten oder in den älteren und ziemlich billig abonnierten Heften des Lesezirkels „Heimgarten“ blätterten und die Kreuzworträtsel lösten. Werner war eine anerkannte Rätselkapazität; er kannte nicht nur das griechische Alphabet, nicht nur die Namen römischer Kaiser und griechischer Philosophen, sondern auch die Titel und Verfasser aller klassischen Dramen und Opern. Nicht ohne Grund! Es war nämlich sein Traum, Schauspieler zu werden. Weiß der Himmel, woher er das hatte! Soweit sich die Familiengeschichten der Ströndles und Teufer — das war nämlich Frau Marthas Mädchenname — zurückverfolgen ließen, hatte es nie in der Verwandtschaft jemand gegeben, der irgendeinen künstlerischen Ehrgeiz gehabt hätte. Es sei denn, daß man die Verse, die Onkel Paul gelegentlich zu Taufen, Hochzeiten oder Geburtstagen drechselte, für Kunsterzeugnisse halten wollte. Aber das waren sie nicht, darüber war sich die ganze Familie einig.
    Dieser Werner, ein bildhübscher Bursche, nach dem sich die Mädchen die Köpfe verdrehten, hatte den heißen Wunsch, eine Schauspielschule besuchen zu dürfen. Aber er biß bei seinem Vater, der mit dem einzigen Sohn höhere Ziele verfolgte, auf Granit. Wilhelm Ströndle zwang den störrischen Filius, sich die Rosinen aus dem Kopf zu schlagen. Es nützte nichts, daß er von Zeit zu Zeit eine an Idiotie grenzende Unbegabtheit für Mathematik und Latein vorzutäuschen versuchte, er wurde durchs Abitur gezwiebelt und studierte nunmehr im zweiten Semester
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