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Purpurdämmern (German Edition)

Purpurdämmern (German Edition)

Titel: Purpurdämmern (German Edition)
Autoren: Andrea Gunschera
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Santino und Pats Gang geblieben war.
    Nach dem Umzug würde er nicht mehr so oft herkommen können wie früher. Erst gestern war er die Strecke mit dem Fahrrad abgefahren. Er brauchte über eine Stunde, selbst wenn er schnell fuhr und alle Schleichwege benutzte. Dennoch konnte er sich nicht durchringen, sein Versteck gänzlich aufzugeben. Nur ein paar Wertsachen wollte er mitnehmen, die er ohne den Säufer wieder gefahrlos in Moms Haus aufbewahren konnte.
    Ohne Eile durchquerte er die Halle, lauschte dem Knirschen von Sand und Glasscherben unter seinen Sohlen, blieb von Zeit zu Zeit stehen, um eine Säule zu berühren oder einen Türsturz zu betrachten. Wie in aller Welt hatte Marielle es fertiggebracht, hier dreiundzwanzig Portale zu errichten? Und wieso hatte er nie etwas bemerkt? Mit dem richtigen Schlüssel konnte er einfach zwischen diesen zwei Pfeilern hindurchgehen, mit ihren abgeplatzten, mexikanischen Kacheln, und fand sich auf dem Gipfel eines Berges wieder oder in einer Zwergenstadt aus Eisen oder was es sonst noch an verrückten Welten im Spektrum gab. Er blickte einer Taube nach, die hinter ihm aufflatterte und sich auf einem verrosteten Fenstergitter niederließ.
    Schließlich betrat er den Fahrstuhl, setzte seinen Fuß in die Vertiefung auf Kniehöhe, stieß sich hoch und langte nach dem Vorsprung über seinem Kopf. Mit schlafwandlerischer Sicherheit suchte er sich seinen Weg, den Schacht hinauf, durchs verrottete Marmorfoyer, durch die Büroruinen, am Spiegel mit dem Messingrahmen vorbei.
    Gerade als er die Hand nach dem Blech ausstreckte, das den Zugang zum Penthouse tarnte, hörte er das wütende Zetern eines Vogels. Beharkten sich da zwei Spatzen, in seinem Versteck?
    Etwas klapperte.
    Das Zetern verstummte.
    Er hob die Absperrung beiseite, aber vorsichtiger als sonst. Ganz leise kroch er ins Innere und erstarrte für ein paar Augenblicke, als sein Blick auf den Kistentisch fiel.
    Er hatte vergessen, die Blüte zurück in ihr Kästchen zu legen, und sich gesorgt, dass eine Elster oder ein Eichhörnchen sie stehlen könnten. Doch in diesem Moment begriff er, dass seine Sorgen in die vollkommen falsche Richtung gelaufen waren. Er brauchte dennoch mehrere Herzschläge, um zu begreifen, was dort vor ihm lag.
    Ein Teil der Blüte sah normal aus, bis auf die Wassertropfen, die groß und schillernd auf den samtigen Blättern ruhten. Der Raum reflektierte sich in den Tropfen, doch etwas war falsch. Er kniff die Augen zusammen, und dann sah er es. Die Reflexionen der übrigen Tropfen passten nicht zum Zimmer. Er konnte den Sonnenuntergang über Detroit sehen, und das Foyer des Depots, mit den Säulenreihen. Ein verfallenes Großraumbüro spiegelte sich in einem weiteren Tropfen.
    Das Schlimmste aber war der Vogel. Es war ein Sperling, der in den Fängen der Blume hing und sich nicht mehr regte. Der zweite Teil der Blüte war zu alptraumhaften, rotvioletten Tentakeln angeschwollen, die Ken an die Scharlachranken in Dämmer-Detroit denken ließen. Vom Vogel war nicht mehr geblieben als ein blutverschmierter kleiner Kadaver mit verwüsteten Federn. Blutstropfen benetzten den Tisch, wo das zweite Opfer der Flüster-Akelei lag, die eingetrockneten Überreste einer Maus. Dort, wo Blutspritzer die weißen Blätter befleckten, färbten die Adern sich purpurn und bildeten winzige Widerhaken an den Kanten.
    Gebannt von der grausigen Szene konnte Ken den Blick nicht abwenden, bis ein hauchfeines Knacken seine Lähmung durchbrach. Er sprang auf und hechtete hinüber zum Holzkästchen, das neben dem Tisch auf dem Boden stand. Er schüttete den Inhalt aus – Schmuckstücke, bunte Steinchen, ein paar Dollarnoten – und stülpte es auf die Akelei. Die Blüte wehrte sich. Es entspann sich ein absurder kleiner Ringkampf, bis es Ken gelang, die Akelei zwischen den beiden Klappen einzusperren. Er verriegelte das Kästchen mit einem Metallhaken und lauschte noch auf das Zischen aus dem Innern, bis ein Ruf von unten ihn aufschreckte.
    »Ken?«
    Er erkannte nicht gleich die Stimme.
    »Ken! Bist du da? Ich weiß, dass du da bist!«
    Er ließ das Kästchen los, kroch hinaus in den Gang und zog die Klappe hinter sich zu.
    »Ken?«, klang ihre Stimme durch die Ruinen. »Ich bin es, Marielle!«
    Sie stand in der Mitte der Halle, als er das letzte Stück den Fahrstuhlschacht hinuntersprang. Die Sonne, die durch die Fensterlöcher fiel, vergoldete ihr Haar.
    Kens Herzschlag beschleunigte sich. Seit ihrem Abschied nach der
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