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Purpurdämmern (German Edition)

Purpurdämmern (German Edition)

Titel: Purpurdämmern (German Edition)
Autoren: Andrea Gunschera
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wieder beschwören, bloß Mrs Heric nichts zu erzählen. Und dabei würde sie anfangen zu weinen.
Sonst nehmen sie uns noch das Haus weg und stecken dich in ein Heim, das willst du doch nicht, mein Schatz.
    »Ich brech’ dir Arme und Beine!«, röhrte Dad. »Wirst du wohl stehen bleiben, du Bastard!«
    Ken schlüpfte durch den Türspalt, hinaus in den Garten. Er trug keine Schuhe, deshalb waren seine Strümpfe im Nu pitschnass. Ein böiger Frühjahrswind trieb ihm Nieselregen ins Gesicht. Kalter Matsch spritzte unter seinen Füßen auf, während er so schnell rannte, wie er nur konnte. Über die Wiese, durch die Lücke im Zaun und dann die Straße hinunter zum Depot.
    Zum Glück waren die Straßenlaternen weiter unten kaputt. Nach wenigen Metern schon tauchte er in schwärzeste Dunkelheit. Wenn Dad nicht sehen konnte, wohin er lief, würde er die Verfolgung aufgeben. Das tat er immer. Und am Morgen würden sie ihn schnarchend und stinkend auf dem Sofa finden, bei laufendem Fernseher, wo er seinen Rausch ausschlief.
    Ken verließ die Straße und drang in den verwahrlosten Roosevelt Park ein. Unter dem Apfelbaum, den Mom so gern mochte, blieb er stehen, den Oberkörper vornübergebeugt, und japste, um wieder zu Atem zu kommen. Gott sei Dank war sein Vater nirgends zu sehen. Er schniefte und wischte sich mit der Faust über die Nase und konnte das Schluchzen nicht länger unterdrücken. Tränen schossen ihm in die Augen.
    Er tappte weiter zum Depot, während er heulte wie ein Mädchen. Rotz tropfte ihm von der Nase. Sein ganzes Elend stürzte auf ihn nieder. Wenigstens gab es hier niemanden, der sich über ihn lustig machen konnte. Er war ganz allein.
    Warum konnte seine Familie nicht ganz normal sein, so wie bei den anderen Kindern in seiner Klasse? Warum musste er eine Mutter haben, die sich laut mit Engeln unterhielt, wenn andere Leute daneben standen? Und einen Vater, der ein prügelnder Krimineller war? Ganz zu schweigen von seinem älteren Bruder Pat, der sowieso nur zu Hause auftauchte, wenn die Polizei ihn suchte. Ken ballte die Fäuste. Es war so ungerecht!
    Als er die andere Seite des Parks erreichte, fühlten seine Füße sich wie Eisklumpen an. Der feine Regen durchnässte sein T-Shirt und verwandelte sein Haar in klebrige Spaghetti. Gänsehaut prickelte an seinem ganzen Körper. Er fror erbärmlich, und es half auch nicht, dass er sich die Arme um die Schultern schlang. Fern am Horizont verschwammen die leuchtenden Türme von Downtown im nächtlichen Dunst. Oder waren es die Tränen, die seine Sicht zu Schlieren verschmierten? Obwohl der Schnee längst geschmolzen war, roch es noch immer nach Winter.
    Das Depot mit seiner verzierten Fassade und den beiden hohen Türmen ragte vor ihm auf wie die Hogwarts-Schule für Zauberei. Mom erzählte manchmal, dass das Depot früher ein prachtvoller Bahnhof gewesen war, auf dem Züge von der Ost- und Westküste und sogar aus Kanada gehalten und Tausende von Besuchern nach Detroit gebracht hatten. Aber das musste lange her sein. Seit Ken sich erinnern konnte, war das Depot eine Ruine.
    Mom wollte nicht, dass er sich darin herumtrieb, weil sie fürchtete, ihm könnte ein Balken auf den Kopf fallen. Aber Ken mochte es hier. Kein Mensch hänselte ihn oder drohte, ihm Arme und Beine zu brechen. Und wenn Sonnenstrahlen durch die zerbrochenen Glasfenster fielen, konnte er sich leicht vorstellen, der Prinz im verwunschenen Dornröschen-Schloss zu sein, das nur auf den richtigen Zauberspruch wartete, um zum Leben zu erwachen.
    Immer wenn Dad im Suff ausrastete, verkroch Ken sich im Depot. Inzwischen fand er auch die Geräusche nicht mehr so gruselig. Den Wind in den leeren Fensterhöhlen, das Zwitschern der Fledermäuse, die Tauben in den oberen Stockwerken. Das Huschen und Scharren der Ratten.
    Erschöpft vom Weinen trottete er die Stufen hinauf und hinein in die Bahnhofshalle. Die Scheinwerfer außen an der Fassade malten helle Vierecke auf den schuttbedeckten Boden. Er balancierte ein Stück auf der Kante entlang, wo Licht und Schatten aneinanderstießen. Unter seinen durchweichten Socken klebten Sand und kleine Steinchen. Alle paar Meter blieb er stehen, um sie an den Jeans abzustreifen.
    Er schniefte. Wahrscheinlich würde er übermorgen mit einer Erkältung im Bett liegen, und das hatten sie dann davon! Vielleicht starb er ja daran, und dann würden sie sich Vorwürfe machen und sich wünschen, er käme zurück.
    Andererseits, und damit verflog sein Triumphgefühl gleich
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