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Privatklinik

Privatklinik

Titel: Privatklinik
Autoren: Heinz G. Konsalik
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folgten in Zweierreihen, wie eine brave Schulklasse, die zwanzig Insassen von Zimmer siebzig.
    »Wir räumen auf …«, sagte Brosius zu dem sprachlosen Judo-Fritze. »Ziehen Sie sich die Schuhe aus, Kellermann, wir helfen mit.«
    Und er setzte sich auf den Stuhl, hob das Bein und streifte Schuh und Strumpf ab.
    Prof. Dr. Brosius, Chef der LHA, Herrenreiter und Offizier der kaiserlichen Infanterie, Herrscher über neunhundert Betten mit neunhundert Geisteskranken, rollte seine Hosenbeine hoch und watete in das zerstörte Zimmer zurück.
    »Hau ruck!« rief er und schleppte mit zwei Trinkern ein zertrümmertes Bett hinaus.
    Man muß ein Beispiel geben, dachte er. Verdammt, dieser Dr. Linden ist wirklich ein Genie. Ob im Krieg oder überall im Leben … das Beispiel reißt mit. Hier ist die Front der Trinker – erobern wir sie! Voranmarschieren ist eine gute Sache.
    Und plötzlich, während er einen zerbrochenen Stuhl durch das Wasser trug, begriff er die Wirkung der Anonymen Alkoholiker.
    Mitreißen, dachte er. Vorbild sein! Hineinreißen in das Leben, das sie glaubten, für immer verloren zu haben. Das ist eine bessere Therapie als eine Apomorphinkur oder eine Antabusbehandlung.
    »Anpacken, Männer!« rief Prof. Brosius fast heiter. »Heute abend müßt ihr hier wieder schlafen. Und eine feuchte Bude gibt Rheuma!«
    Vor dem Haus heulten schwere Motoren auf.
    Die Polizei verließ die Landesheilanstalt.
    Am Einfahrtstor stand ein harmloser Irrer, den man zum Hoffegen eingeteilt hatte, und präsentierte seinen Besen, als die Polizeiautos vorbeiratterten.
    »Befehl ausgeführt, Regenwurm vernichtet!« brüllte er den Polizisten zu. Dann schloß sich das automatische Tor, und der Irre fegte weiter. Von links nach rechts, von rechts nach links, wie eine Maschine. Er war glücklich dabei, man sah es. Sein Gesicht strahlte.
    Drei Wochen später starb in Zimmer dreiundzwanzig der Linden-Klinik Pfarrer Hans Merckel.
    Er war bis zuletzt bei vollem Bewußtsein, bei einer rätselhaften Kraft. Peter Kaul und Susanne standen an seinem Bett, Dr. Krüger und eine Schwester warteten hinter seinem Kopf am Fenster auf das nicht mehr aufschiebbare Ende.
    Trotz Transfusionen wurde der Körper Merckels hoffnungslos vergiftet. Die Leberfunktionen waren zusammengebrochen.
    Das breite Gesicht, dieser Bärenschädel voll Geist und Hiobscher Auflehnung, war gelb wie eine vertrocknete Zitrone. Die weißen Augäpfel lagen wie stumpfer Ocker in den Höhlen. Selbst die Lippen waren braunrot. Sprechen konnte er nicht mehr, aber in seinen Händen war noch Kraft genug, und so schrieb er etwas mit Kreide auf eine große Schulschiefertafel und zeigte dann das Geschriebene.
    »Wo ist Linden?« schrieb er. »Er soll bei mir sein.«
    »Doktor Linden ist in der LHA, Herr Pfarrer.« Kaul beugte sich zu dem Sterbenden vor. »Er hat Gutachten zu erstellen und hilft auch Professor Brosius.«
    »Du nicht?« schrieb Merckel auf die Schiefertafel.
    »Ich will bei Ihnen bleiben«, sagte Kaul. »Ich habe das Beten verlernt, Herr Pfarrer, aber jetzt möchte ich mit Ihnen beten.«
    Merckel nahm die Tafel, wischte mit dem Hemdsärmel die Schrift aus und schrieb neu mit Kreide.
    »Unser ganzes Leben ist ein Gebet, wir wissen es nur nicht. Auch wenn wir glauben, uns von Gott entfernt zu haben – es ist eine Illusion. Gott ist immer neben uns. Amen.«
    »Amen«, sagte Peter Kaul leise. Susanne kniete neben dem Bett, sie hatte die Hände gefaltet. Merckel sah sie lange an. Wie unendlich ist die Liebe Gottes, dachte er, wenn er den Menschen solche Frauen schenkt. Dann blickte er weg, schob die Unterlippe vor und kam sich sentimental vor.
    Er erinnerte sich plötzlich an einen Soldaten, sogar den Namen wußte er jetzt wieder. Felix Blattner. Ein Junge aus dem Allgäu, ein Bergbauernbub wie aus dem Bilderbuch, groß, stämmig, ungeschlacht, mit riesigen Pratzen und noch riesigeren Haxen. Er lag in Gumrak auf einem stinkenden, verfaulten Strohsack, in einem Viehwaggon, inmitten von heulenden und wimmernden Sterbenden, und immer mehr kamen aus der Hölle Stalingrad. Tausende Leiber aufgerissen und fiebernd, überschwemmten die Lazarettzelte, krochen in die Waggons, warfen die Toten oder wehrlosen Sterbenden hinaus in den Schnee und krochen selbst auf blutverkrustete Unterlage, bis andere kamen und sie in den Eissturm hinauswarfen. Ein höllischer Kreislauf, in dem kein Platz mehr war für ein christliches Wort.
    Und der große, starke Felix Blattner lag mitten drin. Ihn warf
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