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Electrica Lord des Lichts

Electrica Lord des Lichts

Titel: Electrica Lord des Lichts
Autoren: Helene Henke
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1819 Isle of Mull, Schottland
    Kapitel 1
    D
ie Sonne versank am Horizont und tauchte die bewaldeten Inselhügel in goldbraunes Licht. Allmählich zogen lange Schatten den Hang hinab über purpurne und hellgelbe Heidekräuter, die inmitten des satten Grüns farbenfrohe Akzente setzten. Friedlich plätscherte der Bach am Fuße von Duart Castle wie eine Grenze zwischen Tag und Nacht.
    Sue tauchte das Wäschestück erneut ins Flusswasser, bevor sie es bis auf den letzten Tropfen auswrang. Zu einer festen Stoffrolle gedreht, hielt sie es in beiden Händen, um es kräftig auf den Felsen neben sich zu schlagen. Seifenlauge trat aus, mischte sich unter die weißen Rinnsale, welche die steinige Oberfläche wie ein Mosaikmuster überzogen. Der nächste Regen würde die Spuren ihres Waschtages fortspülen. Sie strich eine feuchte Haarsträhne zurück unter ihre Leinenhaube. Dabei blinzelte sie dem Sonnenuntergang entgegen. Es war an der Zeit, sich auf den Heimweg zu machen.
    Sie war tief in Gedanken versunken gewesen, sodass sie nicht gemerkt hatte, wie die Stunden vergangen waren. Das geschah häufig, wenn in ihrem Kopf eine neue Geschichte entstand und wie üblich wünschte sie sich, alles niedergeschrieben zu haben. Doch Papier war teuer und schwer zu bekommen. Selten fuhr jemand aus dem Dorf Lochdon bis in die nächste Hafenstadt. Zudem gab es keine Garantie dafür, in einem Krämerladen Schreibpapier zu finden. Kaum jemand verlangte danach, weil wichtigere Waren die Regale füllen sollten, damit die Menschen der Isle of Mull versorgt werden konnten. Inzwischen war Sue daran gewöhnt, ihre Geschichten so lange im Kopf zu bewahren, bis sich eine Gelegenheit fand, sie aufzuschreiben. Mit dem abgeschiedenen Leben auf der Hebrideninsel hatte sie sich arrangiert.
    Sobald sie Lesen und Schreiben konnte, hatte Vater sie aufgefordert, alles aufzuschreiben, was ihr einfiel. Er habe es auch so gemacht und es dadurch zu einem zwar nicht berühmten, aber immerhin angesehenen Schriftsteller gebracht. Außerdem sei das im Sinne ihrer verstorbenen Mutter, zumal diese sich vehement für die Rechte der Frau eingesetzt hatte. Zudem hatte Vater zahlreiche bekannte Künstler gekannt, die regelmäßig seinen kleinen Buchladen in Bath aufsuchten. Doch das war vor vielen Jahren. In der Lordschaft Somerset, bevor das große Feuer die Existenzgrundlage der Familie Beaton verschluckt und Vater getötet hatte. Seit ihrem zehnten Lebensjahr lebte Sue bei ihrer Tante in Lochdon, das von seinen Bewohnern liebevoll als Stadt bezeichnet wurde, aber nicht wirklich eine war. Eher eine dörfliche Ansammlung aus Torf- und Backsteinhütten, deren Bewohner dem Clan Maclean angehörten. Sie alle verstanden sich als Söhne von Gillean, einem Krieger aus dem 13. Jahrhundert, sobald sie sich auf den Ländereien um Duart Castle angesiedelt hatten. Eine in Schottland gängige Form, sich innerhalb der Grenzen verschiedener Lordschaften niederzulassen und Gemeinschaften zu gründen.
    Sue warf das letzte Wäschestück zu den anderen in den Weidenkorb, richtete sich auf und streckte ihre müden Glieder. Sie rieb die wunden Hände an ihrer Schürze trocken. Das klare Bachwasser konnte nicht verhindern, dass die Aschelauge, in der die Wäsche eingeweicht wurde, ihre Haut gereizt hatte.
    Trotzdem nahm Sue Tante Meggie gern diese Arbeit ab, zumal die alte Frau genug zu tun hatte mit dem Haushalt des Schulmeisters. Bei dem Gedanken an den verhärmten Mr. Ethan verzog Sue das Gesicht. Sie hatte sich oft gefragt, wie ihre Tante es ertrug, unter seinem eisernen Regime zu arbeiten. Vielleicht war er in jungen Jahren annehmbarer gewesen, zumal er in Lochdon als angesehener, wohlhabender Mann galt. Oder Tante Meggie kannte eine andere Seite von ihm. Wenigstens würde Sue für ihre Arbeit von Mr. Ethan ein paar Blätter Schreibpapier erhalten. Davon gab es genug im Schulhaus, obwohl die Jungen im Unterricht Kreidetafeln benutzten. Oft fragte sie sich, warum er ihr das Papier nicht persönlich übergab, sondern es in aller Heimlichkeit vor ihrer Haustür ablegte. Tante Meggie hatte auch keine Erklärung, deutete nur hin und wieder die verschrobenen Charakterzüge des Schulmeisters an. Vornehme Zurückhaltung, die einem solchen Verhalten zugrunde liegen könnte, schloss sie jedoch in Bezug auf Mr. Ethan aus.
    Sue zuckte mit den Achseln. Wie dem auch sei, sie freute sich über diese Form der Entlohnung, wenn sie auch in unregelmäßigen Abständen getätigt wurde. Es war nicht
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