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Pompeji

Pompeji

Titel: Pompeji
Autoren: Robert Harris
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Aber die Feuer an den Flanken des Berges schienen jetzt eher gelöscht als neu entfacht zu werden. Wenig später begann seine Fackel zu flackern. Der größte Teil des Pechs war verbrannt. Mit aus Angst gewonnener neuer Energie quälte er sich weiter: Er wusste, wenn die Fackel erlosch, würde er hilflos in der Dunkelheit umherirren. Und als dieser Moment kam, war er in der Tat grauenhaft – entsetzlicher, als er es sich vorgestellt hatte. Seine Beine waren verschwunden, und er konnte nichts sehen, nicht einmal seine Hand, wenn er sie dicht vor die Augen hielt.
    Auch die Feuer an der Flanke des Vesuv waren zu einer gelegentlichen winzigen Fontäne aus orangeroten Funken geschrumpft. Rote Blitze ließen die Unterseite der schwarzen Wolke rosa aufleuchten. Attilius wusste nicht mehr, in welche Richtung er sich bewegte. Er war körperlos, völlig allein, bis fast zu den Oberschenkeln in Stein begraben, während die Welt um ihn herum wirbelte und donnerte. Er warf die Fackel fort und ließ sich vorwärts sinken. Er streckte die Hände aus, und dann lag er da, spürte, wie sich der Mantel aus Bimsstein langsam um seine Schultern legte, und es war seltsam tröstlich, fast so, als würde man als Kind zu Bett gebracht. Er legte seine Wange auf das warme Gestein und spürte, wie er sich entspannte. Ein grandioses Gefühl der Ruhe durchströmte ihn. Wenn dies der Tod war, dann war er nicht allzu schlimm; das konnte er akzeptieren – sogar willkommen heißen wie eine wohlverdiente Ruhe nach einem Tag schwerer Arbeit auf den Arkaden des Aquädukts.
    In seinen Träumen schmolz der Boden unter ihm, und er fiel, in einer Kaskade von Gestein taumelnd, dem Mittelpunkt der Erde entgegen.
     
    Was ihn weckte, waren Hitze und Brandgeruch.
    Attilius wusste nicht, wie lange er geschlafen hatte. Jedenfalls lange genug, um fast vollständig begraben zu sein. Er lag in seinem Grab. Voller Panik stieß er mit den Armen dagegen und spürte, wie die Last auf seinen Schultern allmählich nachgab und aufbrach. Er setzte sich auf, spie den Staub aus seinem Mund und blinzelte, nach wie vor bis zum Gürtel begraben.
    Der Bimssteinregen – das vertraute Warnzeichen – hatte fast völlig aufgehört, und in der Ferne, direkt vor ihm und tief am Himmel, sah er wieder die glühende Wolkensichel. Aber anstatt sich wie ein Komet von rechts nach links zu bewegen, breitete sie sich seitwärts aus und kam rasch den Berg herab auf ihn zu. Unmittelbar dahinter lag eine dunkle Zone, die ein paar Augenblicke später in Brand geriet, weil die Hitze an der Südflanke des Berges neue Nahrung fand; ihr voraus ging, von dem Glutwind getragen, ein Geräusch, das rollendem Donner vergleichbar war. Wenn er Plinius gewesen wäre, hätte er seine Metapher geändert und nicht mehr von einer Wolke, sondern von einer Welle gesprochen – einer brodelnden Welle aus glutheißem Dampf, die sein Gesicht ausdörrte und seine Augen tränen ließ. Er roch sein angesengtes Haar.
    Während die schweflige Morgendämmerung über den Himmel auf ihn zuraste, versuchte Attilius, sich vom Bimsstein zu befreien. Im Zentrum des rötlichen Schimmers kam etwas Dunkles zum Vorschein, das aus der Erde aufragte, und ihm wurde bewusst, dass das karminrote Licht eine kaum eine halbe Meile entfernte Stadt umriss. Das Bild wurde klarer. Er erkannte Stadtmauern und Wachtürme, die Säulen eines dachlosen Tempels, eine Reihe zerstörter, blinder Fenster – und Menschen, die Schatten von Menschen, die panisch auf den Mauern umherliefen. Dieser Anblick war nur eine kurze Zeit scharf, gerade lange genug, um zu erkennen, dass es sich um Pompeji handelte, dann verblasste das Glühen hinter ihr allmählich, und die Stadt versank wieder in Dunkelheit.
     
    Diluculum
     
    [06.00 Uhr]
     
    »Es ist gefährlich zu glauben, dass nach der anfänglichen explosiven Phase das Schlimmste vorüber ist. Das Ende einer Eruption ist sogar noch schwieriger vorauszusagen als ihr Beginn.«
     
    Encyclopedia of Volcanoes
     
    Attilius nahm den Helm vom Kopf und benutzte ihn als Eimer; wieder und wieder tauchte er ihn in den Bimsstein und entleerte ihn über seine Schulter. Während er arbeitete, wurde er sich allmählich der blassweißen Formen seiner Arme bewusst. Er hielt inne und streckte sie staunend aus. Eine so banale Sache, dass man imstande ist, seine Hände zu sehen, und doch hätte er vor Erleichterung weinen können. Der Morgen nahte. Ein neuer Tag bemühte sich, geboren zu werden. Und er war noch am
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