Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Pompeji

Pompeji

Titel: Pompeji
Autoren: Robert Harris
Vom Netzwerk:
gibt andere, die das tun können, Befehlshaber. Ich ziehe es vor, mein Glück auf der Straße zu versuchen.«
    »Aber du bist ein Mann der Wissenschaft, Wasserbaumeister. Daran habe ich keinen Zweifel. Nur deshalb bist du mitgekommen. Hier bist du für mich wesentlich wertvoller. Torquatus – halte ihn auf.«
    Der Kommandant zögerte, dann löste er seinen Kinnriemen und nahm seinen Helm ab. »Nimm den«, sagte er. »Metall ist ein besserer Schutz als Federn.« Attilius wollte protestieren, aber Torquatus legte ihn in seine Hände. »Nimm ihn – und viel Glück.«
    »Danke.« Attilius ergriff seine Hand. »Auch dir viel Glück.«
    Der Helm passte recht gut. Er hatte noch nie zuvor einen Helm getragen. Attilius stand auf und griff nach einer Fackel. Er kam sich vor wie ein Gladiator, der im Begriff ist, die Arena zu betreten.
    »Aber wo willst du denn hin?«, protestierte Plinius.
    Attilius trat in den Sturm hinaus. Die leichten Steine prallten von dem Helm ab. Abgesehen von den wenigen Fackeln, die um das Zelt herum in den Sand gesteckt waren, und dem fernen, glimmenden Scheiterhaufen des Vesuv, war es stockfinster.
    »Nach Pompeji.«
     
    Torquatus hatte die Entfernung zwischen Stabiae und Pompeji auf drei Meilen geschätzt – an einem schönen Tag und auf einer guten Straße ein einstündiger Spaziergang. Aber der Berg hatte die Gesetze von Raum und Zeit verändert, und Attilius hatte das Gefühl, überhaupt nicht voranzukommen.
    Vom Strand auf die Küstenstraße zu gelangen war nicht sonderlich schwierig, und es war ein Vorteil, dass er freien Blick auf den Vesuv hatte, denn das Feuer gab ihm eine Zielmarke. Er wusste, solange er direkt darauf zuhielt, musste er irgendwann nach Pompeji kommen. Aber er musste gegen den Wind ankämpfen, und obwohl er den Kopf senkte und nichts mehr wahrnahm als seine bleichen Beine und den kleinen Flecken Gestein, durch den er gerade watete, schlug ihm der Bimssteinregen ins Gesicht und verstopfte ihm Mund und Nase mit Staub. Bei jedem Schritt versank er bis zu den Knien in Bimsstein; das Gehen glich dem Versuch, einen Geröllhügel zu erklimmen oder eine Scheune voller Getreide – einen endlosen Hang ohne irgendwelche Merkmale, der an seiner Haut scheuerte und an den Muskeln zerrte. Alle paar hundert Schritte blieb er schwankend stehen, zog mit der Fackel in der Hand erst den einen und dann den anderen Fuß aus dem hemmenden Bimsstein und schüttelte die Steine aus seinen Schuhen.
    Die Versuchung, sich hinzulegen und auszuruhen, war überwältigend, doch er wusste, dass er ihr widerstehen musste, denn gelegentlich stolperte er über die Leichen von Leuten, die bereits aufgegeben hatten. Seine Fackel zeigte ihm weiche Formen, bloße Umrisse von Menschen; hier und da ragte ein Fuß heraus oder eine Hand griff in die Luft. Und es waren nicht nur Menschen, die auf der Straße gestorben waren. Er stieß auf ein in den Gesteinsmassen stecken gebliebenes Ochsengespann und auf ein Pferd, das zwischen den Deichselstangen eines aufgegebenen, zu schwer beladenen Karrens zusammengebrochen war – ein Steinpferd, das einen Steinkarren zog. All diese Dinge waren nur flüchtige Erscheinungen im flackernden Lichtkreis seiner Fackel. Es musste noch viel mehr geben, dessen Anblick ihm gnädigerweise erspart blieb. Manchmal tauchten neben den Toten auch Lebende in der Dunkelheit auf – ein Mann, der eine Katze trug; eine nackte und völlig verwirrte Frau; ein Ehepaar mit einem hohen Messing-Kandelaber auf den Schultern, der Mann vorn und die Frau hinten. Sie wanderten in die Richtung, aus der er kam. Von beiden Seiten der Straße vernahm er vereinzelte, kaum noch menschliche Klagelaute, wie man sie, vermutete er, nach dem Ende der Kämpfe auf einem Schlachtfeld hört. Er hielt nicht an, ausgenommen einmal, als er ein Kind nach seinen Eltern weinen hörte. Er lauschte, stolperte eine Weile herum, versuchte herauszufinden, woher das Weinen kam, und rief, aber das Kind war verstummt, vielleicht aus Angst vor einem Fremden, und nach einer Weile gab er die Suche auf.
    All das dauerte mehrere Stunden.
    Irgendwann kam die Lichtsichel auf dem Gipfel des Vesuv wieder zum Vorschein und rollte, weitgehend derselben Bahn folgend wie zuvor, den Abhang hinunter. Jetzt glühte sie heller, und als sie die Küste erreichte – oder das, was er für die Küste hielt –, erlosch sie nicht sofort, sondern rollte auf die See hinaus, bevor sie in der Dunkelheit verschwand. Auch diesmal ließ der Steinregen nach.
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher