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Pompeji

Pompeji

Titel: Pompeji
Autoren: Robert Harris
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August
    Der letzte Tag des Ausbruchs
     
    Inclinatio
     
    [0.12 Uhr]
     
    »Es kommt ein Zeitpunkt, wo so viel Magma so schnell ausgestoßen wird, dass die Dichte der Eruptionssäule zu groß wird und eine stabile Konvektion nicht mehr möglich ist. Wenn das geschieht, bricht die Säule in sich zusammen und es bildet sich eine Glutlawine, die wesentlich tödlicher ist als der Tephra-Regen.«
     
    Volcanoes: A Planetary Perspective
     
    Das Licht wanderte von rechts nach links langsam abwärts. Eine leuchtende Wolkensichel – so beschrieb Plinius das Phänomen –, eine leuchtende Wolkensichel, die an der Westflanke des Vesuv herabfloss und auf ihrer Rückseite ein Mosaik aus Bränden hinterließ. Einige davon waren glimmende, isolierte Stecknadelköpfe – Bauernhäuser und Villen, die in Brand geraten waren. An anderen Stellen jedoch brannten ganze Waldstreifen. Grelle Areale aus lodernden roten und orangefarbenen Flammen rissen ausgezackte Löcher in die Dunkelheit. Die Sichel bewegte sich unerbittlich weiter, jedenfalls so lange, wie man brauchen würde, um bis hundert zu zählen, dann flackerte sie kurz noch einmal auf und verschwand.
    »›Die Manifestation‹«, diktierte Plinius, »›ist in eine neue Phase eingetreten.‹«
    Attilius empfand diese stumme, sich bewegende Erscheinung, ihr mysteriöses Auftauchen, ihren rätselhaften Tod als etwas undefinierbar Unheildrohendes. Im zerrissenen Gipfel des Berges geboren, musste sie herabgerollt und dann in der See ertrunken sein. Er dachte an die Weinberge, die schweren Trauben, die Sklaven mit ihren Fußfesseln. In diesem Jahr würde es keine Ernte geben, ob die Trauben nun reif waren oder nicht.
    »Von hier aus lässt es sich nur schwer beurteilen«, sagte Torquatus, »aber ihrer Position nach halte ich es für möglich, dass diese Flammenwolke gerade Herculaneum überrollt hat.«
    »Aber es scheint nicht zu brennen«, entgegnete Attilius. »Dieser Teil der Küste ist völlig dunkel. Es sieht so aus, als wäre die Stadt verschwunden.«
    Sie schauten auf die unteren Ausläufer des Berges und suchten nach irgendwelchen Lichtpunkten, konnten aber keine entdecken.
    Für die Menschen am Strand von Stabiae verlagerte sich der Schwerpunkt des Grauens erst in die eine Richtung, dann in die andere. Bald konnten sie die Brände im Wind riechen, einen durchdringenden, beißenden Gestank nach Schwefel und Schlacke. Jemand schrie, dass sie alle bei lebendigem Leibe verbrennen würden. Leute schluchzten, keiner lauter als Lucius Popidius, der nach seiner Mutter rief, und dann verkündete ein anderer – es war einer der Seesoldaten, der das Dach mit seinem Ruder angehoben hatte –, dass das schwere Segeltuch nicht mehr einsackte. Das erstickte die Panik.
    Attilius streckte einen Arm vorsichtig aus dem Schutz des Zeltes heraus, mit der Handfläche nach oben, als wollte er feststellen, ob es regnete. Der Soldat hatte Recht. Die Luft war nach wie vor von kleinen Geschoßen erfüllt, aber der Gesteinshagel war nicht mehr so stark wie zuvor. Es war, als hätte der Berg für seine verheerenden Kräfte ein anderes Ventil gefunden, in einer herabstürzenden Glutlawine anstatt im stetigen Beschuss mit Steinen. In diesem Augenblick fasste er seinen Entschluss. Es war besser, bei irgendeinem Tun zu sterben – besser, am Rand der Küstenstraße zusammenzubrechen und in irgendeinem namenlosen Grab zu liegen –, als sich unter diesem erbärmlichen Schutz zu verkriechen und sich alle möglichen beängstigenden Dinge vorzustellen, ein Zuschauer zu sein, der auf das Ende wartet. Er griff nach seinem abgelegten Kissen und legte es sich auf den Kopf, dann tastete er im Sand nach dem Bettlakenstreifen. Torquatus fragte ihn leise, was er vorhabe.
    »Ich gehe.«
    »Du gehst?« Plinius, der, umgeben von seinen mit Bimssteinhäufchen beschwerten Notizen, auf dem Sand lag, schaute überrascht auf. »Du wirst nichts dergleichen tun. Ich verweigere dir ganz entschieden die Erlaubnis, uns zu verlassen.«
    »Mit dem größten Respekt, Befehlshaber, ich empfange meine Befehle von Rom, nicht von dir.« Es wunderte Attilius, dass nicht auch einige der Sklaven das Weite gesucht hatten. Warum hatten sie es nicht getan? Gewohnheit, vermutete er. Außerdem – wohin sollten sie flüchten?
    »Aber ich brauche dich hier.« In Plinius' heiserer Stimme lag ein bittender Ton. »Was ist, wenn mir etwas zustoßen sollte? Jemand muss dafür sorgen, dass meine Beobachtungen der Nachwelt überliefert werden.«
    »Es
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