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Pompeji

Pompeji

Titel: Pompeji
Autoren: Robert Harris
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Bimssteinwehen vermischten sich mit Terrakotta-Ziegeln, Mauerwerk und zersplitterten Balken. Er fand einen leeren Vogelkäfig auf etwas, das einmal ein Balkon gewesen sein musste, und betrat ein zum Himmel hin offenes Schlafzimmer. Allem Anschein nach war es das Zimmer einer jungen Frau gewesen: Hier lagen Schmuckstücke, ein Kamm, ein zerbrochener Spiegel. Eine in den Überresten des Daches halb vergrabene Puppe sah in dem staubigen Zwielicht aus wie ein totes Kind. Etwas, das er für eine Decke hielt, lag auf dem Bett, und als er es aufhob, sah er, dass es ein Umhang war. Er versuchte die Tür zu öffnen – sie war verschlossen –, dann setzte er sich auf das Bett und betrachtete den Umhang genauer.
    Er hatte nie einen Blick für das gehabt, was Frauen tragen. Sabina pflegte zu sagen, dass sie sich in Lumpen kleiden könnte, ohne dass es ihm aufgefallen wäre. Aber dieser Umhang, da war er ganz sicher, gehörte Corelia. Popidius hatte gesagt, sie sei in ihrem Zimmer eingesperrt gewesen, und dies war das Zimmer einer Frau. Außerdem hatte er keine Leiche gefunden, weder hier drinnen noch draußen. Zum ersten Mal wagte er zu hoffen, dass sie hatte entkommen können. Aber wann? Und wohin?
    Er strich mit den Händen über den Umhang und versuchte sich vorzustellen, was Ampliatus getan haben könnte. »Er wollte uns alle einsperren« – das hatte Popidius behauptet. Wahrscheinlich hatte er die Ausgänge verriegelt und allen befohlen auszuharren. Aber dann musste ein Zeitpunkt gekommen sein, gegen Abend, als die Dächer einzustürzen begannen, wo sogar Ampliatus begriffen hatte, dass das alte Haus eine Todesfalle war. Er war kein Mensch, der tatenlos herumsaß und einfach aufgab. Aber er würde nicht aus der Stadt geflüchtet sein; das hätte nicht zu ihm gepasst, und außerdem wäre es zu diesem Zeitpunkt bereits unmöglich gewesen, weit zu kommen. Nein, er musste versucht haben, seine Familie an einen sicheren Ort zu bringen.
    Attilius hob Corelias Umhang an sein Gesicht und atmete den Duft ihres Parfüms ein. Vielleicht hatte sie versucht, von ihrem Vater fortzukommen. Sie hasste ihn. Aber er hätte sie nie gehen lassen. Vielleicht hatte ja auch Ampliatus eine Prozession arrangiert, wie die Gruppe um Plinius, als sie Pomponianus' Villa in Stabiae verlassen hatten. Mit um den Kopf gebundenen Kissen oder Decken. Fackeln, die ein wenig Licht gaben. Hinaus in den Gesteinshagel. Und dann – wohin? Wo war Sicherheit? Attilius versuchte, als Baumeister zu denken. Welche Art von Dach war kräftig genug, um der Last von acht Fuß Bimsstein zu widerstehen? Nichts Flaches, da war er sicher. Etwas, das nach modernen Methoden erbaut worden war. Eine Kuppel wäre ideal. Aber wo gab es in Pompeji eine moderne Kuppel?
    Er ließ den Umhang fallen und stolperte wieder hinaus auf den Balkon.
     
    Jetzt waren hunderte von Menschen auf den Straßen. Sie wimmelten in der Düsternis auf Dachhöhe herum wie Ameisen, deren Nest man zertreten hat. Manche taten es ziellos – verwirrt, bestürzt, vor Kummer von Sinnen. Er sah einen Mann, der gelassen seine Kleider auszog und sie zusammenfaltete, als wollte er ein Bad nehmen. Andere wirkten entschiedener und verfolgten ihre eigenen Such- oder Fluchtpläne. Diebe – aber vielleicht waren es auch die rechtmäßigen Eigentümer, wer vermochte das zu sagen – verschwanden mit allem, was sie tragen konnten, in engen Gassen. Am schlimmsten waren die Namen, die jammervoll in die Dunkelheit hineingerufen wurden. Hatte irgendjemand Felicio oder Pherusa, Verus oder Apuleja, die Frau des Narcissus, gesehen oder Specula oder den Anwalt Terentius Neo? Eltern waren von ihren Kindern getrennt worden. Kleine Mädchen und Jungen standen weinend vor den Häuserruinen. Fackeln wurden Attilius vor das Gesicht gehalten in der Hoffung, er könnte ein anderer sein – ein Vater, ein Ehemann, ein Bruder. Er winkte sie davon, tat ihre Fragen mit einem Achselzucken ab; ihm ging es nur darum, die Häuserblocks zu zählen, die er auf seinem Weg hügelaufwärts, dem Vesuvius-Tor entgegen, hinter sich brachte – ein, zwei, drei: Jeder schien eine Ewigkeit lang nicht enden zu wollen, und er konnte nur hoffen, dass seine Erinnerung ihn nicht im Stich ließ.
    Jetzt brannten mindestens hundert Feuer an der Südseite des Berges, ein komplexes Sternbild tief am Himmel. Attilius hatte mittlerweile gelernt, die Flammen des Vesuv zu unterscheiden. Diese waren ungefährlich – Nachwirkungen eines Schreckens, der vorüber war.
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