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Pompeji

Pompeji

Titel: Pompeji
Autoren: Robert Harris
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Küstenstraße von Stabiae nach Pompeji und dann vom Süden der Stadt hügelaufwärts in ihren Norden? Vielleicht hatte es von Anfang an auf ihn gewartet: sein Schicksal.
    Er schaute wieder zum Berg empor. Es gab keinerlei Zweifel. Der Lichtwurm wuchs. Er flüsterte Corelia zu: »Kannst du laufen?«
    »Ja.«
    »Dann lauf, wie du noch nie zuvor gelaufen bist.«
    Sie verließen die Deckung der Mauer. Ampliatus' Männer kehrten ihnen den Rücken zu und starrten in die Düsternis Richtung Stabiae-Tor. Er hörte, wie Ampliatus weitere Befehle brüllte: »Ihr beide nehmt die Nebenstraße, ihr drei den Hügel hinunter!«, und dann blieb ihnen nichts anderes übrig, als sich wieder ihren Weg durch den Bimsstein zu bahnen. Sein Bein tat so weh, dass er die Zähne zusammenbeißen musste, und Corelia war schneller als er, genau wie damals, als sie die Anhöhe in Misenum emporgerannt war; mit einer Hand hatte sie ihre Röcke um die Oberschenkel gerafft, ihre langen, bleichen Beine leuchteten in der Dunkelheit. Er stolperte hinter ihr her, hörte weitere Rufe von Ampliatus – »Dort sind sie! Folgt ihnen!« –, aber als sie das Ende des Häuserblocks erreicht hatten und er einen Blick über die Schulter riskierte, konnte er nur eine einzige Fackel hinter ihnen herschwanken sehen. »Feiglinge!«, kreischte Ampliatus. »Wovor habt ihr Angst?«
    Aber es war offensichtlich, was die Verfolger zur Meuterei trieb. Die Feuerwelle rollte jetzt unausweichlich den Vesuv hinunter, und sie wuchs von Sekunde zu Sekunde, nicht in die Höhe, sondern in die Breite – donnernd, gasförmig, heißer als Flammen: weiß glühend – und nur ein Irrer würde auf sie zulaufen. Selbst Massavo mochte seinem Herrn jetzt nicht mehr folgen. Menschen gaben ihre fruchtlosen Versuche, ihre Habe auszugraben, auf und taumelten die Anhöhe hinab, um ihr zu entkommen. Attilius spürte die Hitze auf seinem Gesicht. Der sengende Wind wirbelte Asche und Geröll auf. Corelia wandte sich zu ihm um, aber er drängte sie voran – gegen jeden Instinkt, gegen jede Vernunft, auf den Berg zu. Sie hatten einen weiteren Häuserblock hinter sich gebracht. Nur noch einer. Vor ihnen zeichnete sich das Vesuvius-Tor vor dem glühenden Himmel ab.
    »Warte!«, brüllte Ampliatus. »Corelia!« Aber seine Stimme war schwächer, er fiel zurück.
    Attilius erreichte die Ecke des Castellum aquae mit gesenktem Kopf, vom Staub halb geblendet, und zerrte Corelia hinter sich her die schmale Gasse entlang. Der Bimsstein hatte die Tür fast vollständig verschüttet. Nur noch ein kleines Holzdreieck war zu sehen. Er trat mit aller Kraft dagegen, und beim dritten Versuch brach das Schloss, und Bimsstein ergoss sich durch die Öffnung. Er stieß sie hinein und glitt nach ihr in die pechschwarze Dunkelheit. Er konnte das Wasser hören, tastete sich darauf zu, er fühlte den Rand der Zisterne und kletterte darüber hinweg, und stand bis zur Taille im Wasser. Er zog Corelia hinter sich her, tastete den Rand der Abdeckung nach den Riegeln ab, fand sie und hob das Gitter heraus. Schließlich steuerte er Corelia in die Mündung des Tunnels und zwängte sich hinter ihr hinein.
    »Beweg dich! So weit hinein, wie du kannst.« Ein Donnern wie von einer Lawine. Sie konnte ihn nicht gehört haben. Er konnte sich selbst nicht hören. Aber sie kroch instinktiv vorwärts. Attilius folgte, legte seine Hände auf ihre Hüften und drückte sie mit aller Kraft auf die Knie, um dafür zu sorgen, dass sich möglichst viel von ihrem Körper unter Wasser befand. Dann warf er sich über sie. Sie klammerten sich im Wasser aneinander. Und dann waren da nur noch sengende Hitze und Schwefelgestank in der Dunkelheit des Aquädukts, direkt unter der Stadtmauer.
     
    Hora altera
     
    [07.57 Uhr]
     
    »Temperaturen über 200 Grad Celsius kann der menschliche Körper nicht länger als ein paar Sekunden ertragen, zumal im schnellen Strom einer Glutlawine. Der Versuch, in der dichten Wolke aus heißer Asche ohne Sauerstoff Luft zu holen, führt nach ein paar Atemzügen zu Bewusstlosigkeit und bewirkt außerdem, starke Verbrennungen in den Atemwegen … Andererseits ist in manchen Abschnitten einer Glutlawine Überleben möglich, sofern etwas vorhanden ist, das Schutz vor ihr und ihren hohen Temperaturen ebenso bietet wie vor den Geschossen (Gestein, Baumaterialien), die die sich schnell bewegende Materiewolke mitreißt.«
     
    Encyclopedia of Volcanoes
     
    Ein glühender Sandsturm raste den Berg hinab auf Ampliatus zu.
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