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Was der Hund sah

Was der Hund sah

Titel: Was der Hund sah
Autoren: Malcolm Gladwell
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Vorwort
1.
    Als kleiner Junge schlich ich mich oft in das Arbeitszimmer meines Vaters und stöberte in den Papieren auf seinem Schreibtisch herum. Mein Vater ist Mathematiker. Mit Bleistift schrieb er fein säuberlich lange Zahlenreihen auf Rechenpapier und zeichnete Grafiken. Ich saß auf der Stuhlkante und sah mir staunend jede einzelne Seite an. Es war mir unbegreiflich, wie seine Arbeit aus diesen sinnlosen Kritzeleien bestehen konnte. Vor allem aber kam ich nicht darüber hinweg, dass jemand, den ich so inständig liebte, Tag für Tag in seinem Kopf etwas anstellte, das ich nicht annähernd verstand.
    Heute weiß ich, dass es sich dabei um das »Problem des Anderen« handelt, wie Psychologen es nennen. Einjährige meinen, weil sie gern Goldfischli essen, müssen Papa und Mama auch gern Goldfischli essen: Sie verstehen nicht, dass in ihrem Kopf etwas anderes vorgeht als in den Köpfen anderer Menschen. Der Moment, in dem wir erkennen, dass Papa und Mama nicht unbedingt Goldfischli mögen müssen, nur weil wir sie gern essen, ist einer der Meilensteine in unserer kognitiven Entwicklung. Kleinkinder begeistern sich an der Entdeckung, dass es außer dem ihren auch noch andere Köpfe gibt, und diese Faszination bleibt uns bis ins Erwachsenenalter erhalten. (Zweijährige können unter anderem deshalb so nervtötend sein, weil sie systematisch mit der überwältigenden und für sie vollkommen neuen Vorstellung ex perimentieren, dass etwas, das ihnen Spaß macht, ihren Eltern noch lange keinen Spaß machen muss.) Wie lautet die erste Frage, die wir einem Arzt stellen, den wir auf einer Party kennen lernen? Nicht: »Was machen Sie?« Wir haben eine ungefähre Vorstellung davon, was ein Arzt tut. Nein, wir fragen, wie es ist, den ganzen Tag mit kranken Menschen zusammen zu sein. Wir wollen wissen, wie es sich anfühlt , ein Arzt zu sein, denn wir vermuten, dass es ganz anders sein muss, als den ganzen Tag am Computer zu sitzen, vor einer Schulklasse zu stehen oder Gebrauchtwagen zu verkaufen. Fragen wie diese sind weder dumm, noch sind die Antworten offensichtlich. Diese Neugierde, wissen zu wollen, was in anderen Menschen vorgeht, wenn sie ihrem Alltag nachgehen, ist eine zutiefst menschliche Regung, und sie ist auch der Antrieb hinter dem Buch, das Sie gerade in der Hand halten.
2.
    Die Geschichten in diesem Buch sind zuerst im Magazin New Yorker erschienen, für das ich seit 1996 schreibe. Unter den vielen Artikeln, die ich seither verfasst habe, sind dies meine Lieblingsgeschichten. Ich habe sie in drei Gruppen eingeteilt. Im ersten Teil stelle ich Besessene und kleine Genies vor, wie ich sie nenne - nicht die Einsteins, Churchills, Mandelas und anderen Giganten, die unsere Welt verändern, sondern Menschen wie Ron Popeil, der den Chop-O-Matic verkaufte, oder Shirley Polykoff, die die legendäre Frage stellte: »Tut sie’s oder tut sie’s nicht? Das weiß nur ihre Friseuse.« Die Geschichten im zweiten Teil beschäftigen sich mit unseren Theorien und Versuchen, unsere Erfahrungen einzuordnen. Wie sollen wir beispielsweise mit der Obdachlosigkeit, Finanzskandalen oder Katastrophen wie der Explosion der Raumfähre Challenger umgehen? Im dritten Teil geht es schließlich darum, wie wir andere Menschen beurteilen. Woher wissen wir, ob jemand ein schlechter, ein kluger oder ein talentierter Mensch ist? Wie Sie sehen werden, habe ich meine Zweifel, ob wir derartige Urteile überhaupt mit einiger Verlässlichkeit fällen können.
    In diesen Geschichten will ich keinesfalls den Eindruck vermitteln, als wüsste ich, was wir wirklich denken sollten. Ich beschreibe vielmehr, was Menschen, die sich Gedanken über Obdachlosigkeit, Ketchup oder Finanzskandale machen, über Obdachlosigkeit, Ketchup oder Finanzskandale denken. Ich persönlich weiß nicht, wie ich die Challenger-Katastrophe verstehen soll. Für mich bleibt sie letztlich unbegreiflich, genau wie die langen Reihen fein säuberlich auf Kästchenpapier niedergeschriebener Zahlen und die Grafiken. Aber was wäre, wenn wir das Problem durch die Brille eines anderen Menschen betrachten würden? Wenn wir uns in den Kopf eines anderen Menschen versetzen könnten?
    In einer der Geschichten versuche ich zum Beispiel den Unterschied zwischen einer Blockade und einem Panikanfall zu verstehen. Anlass war der Flugzeugabsturz von John F. Kennedy Jr. im Juli 1999. Kennedy war ein unerfahrener Flieger, der in eine Schlechtwetterfront geriet, den »Horizont verlor«, wie Piloten
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