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Platzhirsch: Ein Alpen-Krimi (German Edition)

Platzhirsch: Ein Alpen-Krimi (German Edition)

Titel: Platzhirsch: Ein Alpen-Krimi (German Edition)
Autoren: Nicola Förg
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Hauptstraße. Andrea hatte schließlich angeordnet, ihn durchzulassen. Er hatte den Krankenwagen quasi gestürmt, doch sein Auftauchen schien Irmis Genesung zu beflügeln, denn etwas später kam sie, in eine Wärmedecke gehüllt, aus dem Wagen. Mit ihm , der plötzlich für alle einen Namen hatte: Jens.
    Ihm war es auch geglückt, Robbies Vertrauen zu gewinnen. Die ganze Zeit über, als rundum das Chaos tobte, hatte Jens ihm Geschichten erzählt, Tiergeschichten. Er hatte es sogar geschafft, Robbie in sein Zimmer zu bringen. Sie hatten die Polizeipsychologin geholt, die zusammen mit Jens die ganze Nacht geblieben war, bis Robbie von seiner Werkstätte abgeholt worden war, wo er nun für eine Weile im Wohnheim leben würde. Irmi hatte die Nacht letztlich doch im Krankenhaus verbracht – genau wie Kathi, die allerdings dank ihrer Schusswunde weitere zwei Tage bleiben durfte.
    Noch auf dem Weg in die Klinik war Irmi nicht müde geworden, immer wieder darauf hinzuweisen, dass sich jemand um die Tiere kümmern müsse, und am Ende hatte Bernhard ein Einsehen. Er und Lissis Mann Alfred, zwei Kuhbauern, fütterten nun Elche und Rentiere. Die Eule würde zu einem Falkner kommen, und der kleine Dackel Lohengrin war nach Schwaigen gezogen. Vorerst einmal, das hatte Irmi Bernhard versprechen müssen. Lohengrin hatte nur kurz die Lefzen so nach hinten gezogen, dass man meinen konnte, er wäre der Hund von Baskerville. Dann hatte er abgedreht und begonnen, den Napf der Kater leer zu fressen. Die Kater waren noch in der Grübelphase, wie sie wohl damit umgehen sollten. Momentan zischten sie nur kurz, der Kleine pfiff dazu, dann zogen sie Bauch an Bauch ab. Die Kater schienen zu hoffen, dass der Gast nur auf Zeit bleiben würde. Irmi wusste nicht, ob sie das auch hoffte, man würde abwarten müssen, wie es mit Helga weiterginge.
    Irmi hatte ihr gedankt, dass sie ihren Mann aufgehalten hatte. Helga Bartholomä war gealtert in den letzten Tagen, doch so seltsam es auch klingen mochte: Sie wirkte nicht nur unendlich müde, sondern zugleich beherrscht und auch erlöst. Sie hatte nach dem Erhalt des Tagebuchs natürlich als Erstes ihren Mann angesprochen, und der hatte, so gut es ging, versucht, sie zu stützen.
    Irmi war klar, wie furchtbar die Lektüre dieses Tagebuchs für Helga Bartholomä gewesen sein musste. Was musste es ausgelöst haben in ihr! Sie, die in diesem Künstlerhaushalt in Innsbruck aufgewachsen war, die ihre Mutter hatte sterben sehen. Die eine Stelle angetreten hatte, die höchst ungewöhnlich gewesen war – für die Zeit und für eine so junge Frau. Sicher war sie Hieronymus und Margarethe immer treu ergeben gewesen.
    Und dann hatte sie plötzlich erfahren, dass ihr Arbeitgeber ihr Bruder war. Dass alle das gewusst hatten, nur sie nicht – das wog sicher am schwersten. Die Wahrheit, so grausam sie sein mochte, konnte wie ein Paukenschlag kommen. Konnte ein Leben erschüttern. Aber sie war doch um so vieles besser als der Betrug und das Versteckspiel. Die Wahrheit, erst einmal geschluckt, ließ einem Handlungsspielraum, die Lüge nicht.
    Es war die Generation ihrer aller Eltern, die hinter den Fassaden ihre Leichen gestapelt hatten – wegen der Leute, wegen der Normen. Doch wer hatte die Normen aufgestellt? So viele Verzweiflungstaten, so viele Suizide hatten das Verstecken und das Weglügen gekostet. Ob ihre eigene Generation es besser machen würde?, fragte sich Irmi.
    Helga und Bartl schienen in jedem Fall beschlossen zu haben, das Wissen in sich zu versperren, an der Lüge festzuhalten. Sie hatten Regina schonen wollen, zumindest war das ihre ursprüngliche Intention gewesen.
    Doch dann hatte Regina bei Helga durch einen Zufall das Elchbild mit den drei Jugendlichen entdeckt. Hatte weitergewühlt und das Buch gefunden. Sie hatte es eingescannt, gelesen und begonnen, in der Familiengeschichte zu wühlen. Dann hatte sie Helga damit konfrontiert, dass sie ein Buch schreiben werde. Die Haushälterin hatte immer wieder versucht, Regina zu erklären, dass sie das nicht wolle. Dass die Vergangenheit ruhen müsse. Auch Bartl hatte mit Regina geredet.
    Aber Regina war nicht mehr aufzuhalten gewesen. Sicherlich war auch sie bis ins Mark erschüttert gewesen: Ihr Großvater war ein Vergewaltiger gewesen, der die junge Dienstmagd aus dem Außerfern systematisch missbraucht hatte. Regina war hineingesprungen in den Sumpf ihrer Familie und hatte doch nicht darin ertrinken wollen. Sie wollte aufarbeiten, sich aufbäumen.
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