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Phantom des Alexander Wolf

Phantom des Alexander Wolf

Titel: Phantom des Alexander Wolf
Autoren: G Gasdanow
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erst jetzt, wie lange und wie tödlich ich müde war. Ich dachte, wie gut es wäre, sich jetzt hinzulegen und einzuschlafen – und wieder aufzuwachen weit weg von diesen Ereignissen und diesen Gefühlen, die mir keine Ruhe ließen.
    Plötzlich fiel mir ein, dass Jelena Nikolajewna um vier Uhr zu mir kommen sollte. Sie war der einzige Mensch, den ich jetzt sehen mochte. Und ich beschloss, nicht auf sie zu warten und einfach zu ihr zu fahren. Doch nicht einmal, als ich bei ihr die Treppe hochstieg, wollte diese dumpfe und lastende Schwermut von mir weichen. Endlich stand ich vor ihrer Wohnung, holte die Schlüssel hervor und sperrte beunruhigt die Tür auf. Über den Grund für diese Beunruhigung machte ich mir keine Gedanken, aber er wurde mir klar, kaum dass ich die Tür geöffnet hatte: Aus Jelena Nikolajewnas Zimmer waren äußerst erregte Stimmen zu hören. Mich befiel vages Entsetzen, noch bevor ich überlegen konnte, was wohl die Ursache wäre. Doch zum Nachdenken hatte ich keine Zeit. An mein Ohr drang ein verzweifelter Schrei Jelena Nikolajewnas; ihre Stimme, kaum zu erkennen und schrecklich, schrie:
    »Niemals, hörst du, niemals!«
    Ich rannte wie im Traum durch den Flur, der zu ihrem Zimmer führte. In einer Ecke erblickte ich Annys Gesicht, grau vor Furcht, aber daran erinnerte ich mich erst später. Ich wusste, glaube ich, in diesem Augenblick nicht, dass ich längst die Pistole in der Hand hielt. Plötzlich hörte ich ein Poltern und das Klirren von zersplitterndem Glas; es folgte ein Schuss und ein zweiter Schrei, wortlos, der wie ein krampfhaftes Lufteinziehen klang: Ah! Ah! Ah! Doch da war ich schon an der halboffenen Glastür, und von der Schwelle erblickte ich Jelena Nikolajewna, die am Fenster stand, und ihr halb zugewandt die Silhouette eines Mannes, der ebenso wie ich eine Pistole hielt. Ohne den Arm zu heben, fast ohne zu zielen – auf diese Entfernung konnte man nicht danebenschießen –, schoss ich auf ihn zweimal hintereinander. Er drehte sich um sich selbst, dann reckte er sich und sackte schwer zu Boden.
    Ein paar Augenblicke stand ich unbeweglich, vor meinen Augen war alles trübe und schwankte. Jedoch bemerkte ich Blut auf Jelena Nikolajewnas weißem Kleid: Sie war an der linken Schulter verwundet. Wie ich später erfuhr, hatte sie zu ihrer Verteidigung eine gläserne Vase auf den Schießenden geworfen, fast zur selben Zeit, als er abdrückte, und das erklärte, weshalb seine Kugel abgelenkt worden war.
    Er lag nun, den Körper der Länge nach ausgestreckt, die Arme zur Seite geworfen; sein Kopf lag beinahe zu ihren Füßen. Ich trat einen Schritt vor, beugte mich über ihn, und plötzlich war mir, als ob die Zeit sich verdichtete und verflüchtigte, als ob sie in dieser blitzschnellen Bewegung viele Jahre meines Lebens davontrüge.
    Vom grauen Teppich, der den Boden dieses Zimmers bedeckte, schauten auf mich die toten Augen des Alexander Wolf.

Nachwort

Das Phantom des Gaito Gasdanow
    Russland war Ende der 80er Jahre vom Lesefieber befallen. Klassiker der Gegenwart wie Pasternaks Doktor Schiwago oder Bitows Puschkinhaus konnten dank der Perestroika aus dem Samisdat auftauchen und legal in sowjetischen Zeitschriften und Verlagen erscheinen. Als weltweit gefeierter Autor kehrte Vladimir Nabokov in die Heimat zurück, gut ein Jahrzehnt nach seinem Tod und sieben Jahrzehnte nach der Emigration. Selbst der geächtete, ausgebürgerte Alexander Solschenizyn erreichte die russischen Leser nun in Millionenauflagen.
    Während sich der Ruhm eines Nabokov in den abgeschirmten sowjetischen Leserkreisen schon vorher herumgesprochen hatte und eingeschmuggelte Exemplare seiner Werke längst die Runde machten, blieb in der Flut des Heimgeholten und Neuentdeckten ein Autor zunächst unbeachtet, dessen Prosa ebenfalls seit 1988 gedruckt wurde: Gaito Gasdanow. Der auch für russische Ohren fremdländisch klingende Name war kaum jemandem bekannt, nicht einmal gerüchtweise. So geisterte Gasdanow ein paar Jahre schemenhaft durch Periodika und Verlagsprogramme, erst gegen Ende der 90er Jahre war er tatsächlich beim russischen Leser angekommen. Wer ihn für sich entdeckte, für den war der Überraschungseffekt allerdings gewaltig. Im Überschwang der Begeisterung streute der Literaturliebhaber schon mal die Empfehlung aus: Lest Gasdanow, der schreibt ja noch besser als Nabokov!
    Was hat es mit diesem literarischen Phantom auf sich, wer ist dieser Gaito Gasdanow?
    Geboren wurde er am 6. Dezember 1903 als
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