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Die da kommen

Die da kommen

Titel: Die da kommen
Autoren: Liz Jensen
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Prolog
    Die genaue Ursache für einen Ausbruch von Massenhysterie lässt sich selten genau ermitteln, doch das Datum, an das ich mich besonders lebhaft erinnere, ist der 16. September – ein Sonntag, an dem ein kleines Mädchen in einem Pyjama mit Schmetterlingen seine Großmutter abschlachtete, indem es einen Druckluftnagler auf ihren Hals abfeuerte. Der Angriff ereignete sich im Wohnzimmer der Familie in einer baumbestandenen Sackgasse in Harrogate, wo niemand Müll auf die Straße wirft und wo man noch die Vögel singen hört.
    Drei Schüsse. Drei Stahlnägel von dreizehn Millimetern Länge. Die Halsschlagader hatte keine Chance.
    Ohne Grund. Ohne Vorwarnung.
    Der Vater des kleinen Mädchens war als Erster am Tatort. Er hörte einen dumpfen Laut – die Frau hatte versucht zu schreien –, stürzte herein und fand sie blutüberströmt auf dem Sofa, während das Kind wie in Trance an die Wand starrte, als schliefe es mit offenen Augen. Als die übrigen Familienmitglieder hinzukamen und das Blut sahen, dachten alle dasselbe: ein schrecklicher Unfall.
    Doch das war ein Trugschluss, denn Sekunden später kam das Kind mit einem Ruck zu sich und griff erneut nach dem Gerät. Bevor jemand erkannte, was das Mädchen vorhatte, richtete es den Nagler auf das Gesicht des Vaters und drückte ab.
    Menschliche Augen sind empfindlich, auch sie hatten keine Chance. Doch der Mann hatte noch Glück im Unglück.
    Ein federleichtes Gerät von Black & Decker. Ein Mord, eine Blendung. Zwei Minuten. Kein Unfall.
    Sie kann nicht die Erste gewesen sein. Dennoch nenne ich sie Kind Eins.
    Zum Zeitpunkt des Angriffs war sie gerade sieben geworden.
    Ist Gewalt ansteckend? Durch welchen Mechanismus verschmilzt eine Reihe scheinbar willkürlicher Ereignisse zu einer Erzählung von Ursache und Wirkung? Gibt es so etwas wie eine psychische Okkupation?
    All das wurden drängende Fragen für mich.
    Am Tag, als die Nachricht bekannt wurde, war ich gerade aus Taiwan zurückgekehrt und blinzelte auf dem Parkplatz des Flughafens von Glasgow in die Sonne. Nach der stickigen Hitze im Zentrum von Taipeh bebte die Luft förmlich vor Frische. Als meine Maschine aufsetzte, bereitete das kleine Mädchen gerade seine Waffe vor. Während ich durch den Zoll ging, führte es den Angriff aus. Während ich zur Fähre an die Küste fuhr, vorbei an den wuchernden Vororten grauer schottischer Städte, untersuchten zwei Polizeibeamte einen Tatort, den sie später als den »erschütterndsten und perversesten« ihrer gesamten Laufbahn bezeichnen sollten.
    Damals wohnte ich auf der Insel Arran in einer Landschaft, die unberechenbar zwischen Licht und Dunkel wechselt: Streifen von Sonnenlicht, Wolken wie Holzkohle, plötzliche Regenbogen, blasse Nebelfedern im Gebüsch, der zinngrau schimmernde Atlantik. Gleich nach der Trennung von Kaitlin hatte ich ein steinernes Cottage an der Ostküste gemietet – ideal für jemanden, der die Einsamkeit liebt und nur selten am Hauptsitz der Firma erscheinen muss. Es war dunkel und hatte niedrige Decken. Vor der Haustür lag ein StreifenBuschland, durch das man rasch ans Ufer gelangte. Dahinter sah man den rautenförmigen Umriss eines schwarzen Granitfelsens und ein vom Wind gepeitschtes Weißdornwäldchen. Ich konnte stundenlang den kreisenden Rotorblättern der Windräder am Horizont zuschauen. Neben dem verwilderten Gemüsegarten hinter dem Cottage rosteten Traktorteile vor sich hin. Es gab auch eine Badewanne aus Emaille, die auf Ziegelsteinen stand und von einem früheren Mieter in einen primitiven Teich verwandelt worden war. Als ich die Vogelmiere entfernte, entdeckte ich einen blassen Goldfisch. Ab und zu leerte ich die Krümel aus dem Toaster in die Wanne.
    »Hier, Mr Fisch, Mr Fisch, Mr Fisch!«, pflegte ich zu sagen. Seltsam, an diesem leeren Ort eine menschliche Stimme zu hören.
    Es gibt Inventarstücke in meinem Leben, die für mich eine Art Zuhause bilden. Die antiken Augenheilkunde-Schaubilder in Kyrillisch, Hindi, Chinesisch und Arabisch, die mir Professor Whybray bei seiner Pensionierung vermacht hat, Farbkataloge, fremdsprachige Wörterbücher und Sammlungen von Volksmärchen, einige mathematische Diagramme, Origami-Modelle, die ich im Laufe der Jahre angefertigt habe, und ein Dinosaurier aus Pappe, den Freddy in der Grundschule gebastelt hat. Eine vernünftige Ordnung ist wichtig. Und die habe ich auch geschaffen.
    Ich bin ein Gewohnheitstier. Nach drei Tagen in Taiwan, an denen ich unter Hochdruck an dem
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