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Phantasmen (German Edition)

Phantasmen (German Edition)

Titel: Phantasmen (German Edition)
Autoren: Kai Meyer
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dass Tyler Flavie mit einem Arm umfasste, während er die Kabel an den Augenkontakten zertrennte. Zärtlich hob er sie aus dem stählernen Rahmen. Sie musste leicht sein wie ein Kind. Er machte einen Schritt zurück und legte sie neben uns am Boden ab.
    Mein Blick war vor Tränen verschwommen. Ich hätte keine Kraft mehr haben dürfen, nicht nach den letzten Stunden, aber von irgendwoher nahm ich die Energie, um weiterzumachen, nur ja nicht aufzugeben.
    Tyler hingegen saß ganz still neben Flavie. Er machte keinen Versuch, sie zu retten. Er musste wissen, dass es zu spät war, vielleicht drei Jahre zu spät. Er wirkte wie jemand, der gerade seinen Frieden machte mit einer Katastrophe, die wie ein Tornado durch sein Leben gefahren war. Er saß nur da und blickte auf Flavie hinab, während sie noch einmal zuckte und endgültig still lag. Dann beugte er sich vor und küsste sie ein letztes Mal auf ihre schmalen, blutleeren Lippen.

48.
    Etwas wie ein Stromstoß traf meine Hand von unten.
    »Mach schon!«, flüsterte ich.
    Emmas Herz begann zu schlagen.
    Ihre Augenlider flatterten, ihre Züge erwachten zum Leben. Sie öffnete den Mund und sog heftig die Luft ein, ein hartes Röcheln, das erst allmählich zu regelmäßigem Ein- und Ausatmen wurde.
    Es dauerte Minuten, bis ich sicher war, dass sie es schaffen würde. Die Zeit bis dahin war ein Albtraum aus Ungewissheit, Schuldgefühlen, Erleichterung, alles in rasendem Wechsel. Tyler saß neben mir, Flavies Kopf in seinen Schoß gebettet, so als schliefe sie nur. Aber über sie hinweg hielt er Emmas Hand, während sie Zug um Zug zu uns zurückfand.
    In diesen Augenblicken machte ich meinen Frieden mit Afrika. Ich hätte Emma niemals retten können ohne das, was ich dort gelernt hatte. Das war es wert gewesen: all die Ängste, die Phobie, die Zeiten, in denen ich dachte, ich müsste verrückt werden.
    Als es keinen Zweifel mehr gab, dass Emma sich erholen würde, und ich sie zum hundertsten Mal umarmt, auf die Stirn geküsst und sentimentalen Unsinn gestammelt hatte, wandte ich mich Tyler und Flavie zu. Er hatte ebenfalls geweint, die Tränen hatten helle Bahnen durch den Schmutz auf seinem Gesicht gezogen. Unsere Blicke trafen sich. Es war nicht nötig, dass einer von uns etwas sagte.
    »Ihr müsst euch das ansehen«, erklang Havens Stimme von der Tür her. Er war dabei gewesen, während Emma erwacht war, ein gebeugter, verwundeter Mann, der sich auf einem Tisch abgestützt und mit uns ausgeharrt hatte. Erst als sie endlich wieder atmete, war er fortgegangen – zu seiner Tochter, hatte ich angenommen, um sich zu vergewissern, dass auch ihr Geist sich aufgelöst hatte.
    »Wirklich, ihr solltet das sehen.«
    Ich konnte Emma nicht loslassen, so wenig wie Tyler Flavie. Die Welt, oder was davon übrig war, würde uns nicht davonlaufen.
    Emma richtete ihren Oberkörper auf.
    »Langsam«, sagte ich.
    »Es geht schon.« Ihre Stimme klang überhaupt nicht danach – rau und heiser –, aber sie hatte schon wieder diesen eigensinnigen Blick, der mir deutlicher als alles andere verriet, dass es ihr besser ging.
    Sie wandte den Kopf und sah zu Flavie hinüber.
    »Ich hab ihre Stimme gehört«, sagte sie leise.
    Ich nickte. »Du hast sie alle gehört.«
    »Nein.« Sie brachte es fertig, mich beinahe vorwurfsvoll anzusehen, als könnte sie nicht glauben, dass ich sie nicht früher durchschaut hatte. »Das war gelogen. Der Einzige, der mit mir gesprochen hat, war Tomasz. Und dann, ganz am Ende, Flavie.«
    »Dass du die anderen hörst, das hast du nur gesagt, um –«
    »Damit ihr mich zu Whitehead gehen lasst, du und Haven.« Sie warf einen Blick zum Colonel hinüber, der keine Miene verzog. »Ich hab zwar gehofft, dass es klappen würde, dass sie vielleicht doch mit mir sprechen würden wie Tomasz, aber ich war nicht sicher … Und sie haben’s auch nicht getan, erst im allerletzten Augenblick, als ich …« Sie verlor den Faden und brach ab.
    »Als du selbst schon so gut wie tot warst«, sagte Haven.
    »Ja.«
    Tyler strich sanft über Flavies rasierten Kopf. Ihre Gesichtshaut spannte sich wie heiß gewordenes Plastik über ihren Schädelknochen. Die Metallimplantate neben ihren Schläfen reflektierten das Neonlicht. »Was hat sie gesagt?«, fragte er.
    »Dass es ihr leidtut.«
    Ich meinte ihr anzusehen, dass das eine weitere Lüge war. Ganz sicher war ich nicht. Sie war früher nie gut darin gewesen, die Unwahrheit zu sagen, aber sie war jetzt nicht mehr dieselbe Emma, mit der
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