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Phantasmen (German Edition)

Phantasmen (German Edition)

Titel: Phantasmen (German Edition)
Autoren: Kai Meyer
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ich in Cardiff aufgebrochen war.
    Tyler brachte ein schwaches Lächeln zu Stande. Ich hatte ihn für jemanden gehalten, den Gefühle wie Trauer und Wut zum Toben brachten. Der Dinge gegen die Wand warf und dabei Gott und die Welt verfluchte. Stattdessen schien ihn nun eine Ruhe zu erfüllen, die auf mich abfärbte. Ich fühlte mich wie in einer sonderbaren, tranceartigen Schwebe.
    »Ich möchte aufstehen«, sagte Emma.
    Ich half ihr dabei und stützte sie. Tyler hob Flavie vom Boden und trug sie auf beiden Armen. Gemeinsam durchquerten wir das Labor, vorbei an Whiteheads Leiche. Emma streifte ihn mit einem kurzen Blick, aber keiner von uns anderen beachtete ihn. Niemand sagte etwas.
    Wir folgten Haven durch das halb geöffnete Schott hinaus auf den Korridor. Emma und ich hielten uns gegenseitig aufrecht. Flavies Arme und Beine hingen herab, ihr Kopf wippte leicht bei jedem Schritt.
    An der nächsten Korridorkreuzung blieb Tyler stehen.
    »Ich kann sie nirgends begraben«, sagte er zu Haven, »aber, wenn es Ihnen recht ist, dann würde ich sie gern zu Ihrer Tochter legen. Zu Tanya.«
    Haven presste die Lippen aufeinander. Die Männer starrten einander lange an. Der Colonel schien am Ende seiner Kräfte zu sein, aber es waren wohl am wenigsten die Brandwunden, die ihm zu schaffen machten. Schließlich nickte er.
    »Wir warten hier«, sagte ich, weil mir klar war, dass dies etwas war, das Tyler allein tun musste.
    Haven sah mich an, dann Emma. »Werft einen Blick in die Zentrale«, sagte er, wandte sich um und betrat den rechten Gang. Tyler folgte ihm mit Flavie.
    Wir blieben zurück, als die beiden den weißen Flur hinabgingen. Während wir ihnen nachschauten, dachte ich, wie sehr ich das weiße Neonlicht hasste. Ich konnte es nicht erwarten, endlich ins Freie zu kommen, ganz gleich, wie es dort aussah.
    Nach zehn Minuten kehrte Tyler allein zurück.
    »Er bleibt bei seiner Tochter«, sagte er mit steinerner Miene.
    Emma schaute lange den Gang hinunter, als könnte sie Haven dort sehen. Ich fragte mich, ob er eine der Pistolen aus dem Labor eingesteckt hatte.
    Wenig später kamen wir an der Überwachungszentrale vorbei. Monitore und Lampen flackerten. Da verstand ich, was Haven gemeint hatte. Er war hier gewesen und hatte die Einstellungen verändert. Die Bildschirme zeigten Aufnahmen, die von den Kameras an der Außenseite des Gebäudes aufgezeichnet wurden. All die Körper lagen unverändert auf dem Asphalt und den Gehwegen, aber jetzt waren sie in das feurige Rot eines Sonnenuntergangs getaucht.
    Es gab kein Totenlicht mehr. Die Geister waren verschwunden, als hätte ein Windstoß sie davongeweht. Ich forschte in mir nach einem Anflug von Freude, wenigstens Erleichterung, aber alles, was ich empfand, war Erschöpfung.
    »Da oben«, sagte Emma und deutete auf einen Monitor, der die Straße und einen Ausschnitt des Himmels zwischen den Hochhäusern zeigte. Etwas bewegte sich vor den feuerroten Wolken, ein weißer Lichtpunkt, gefolgt von einem zweiten.
    Ich erinnerte mich an den Rettungshubschrauber, den wir auf dem Weg durch die Stadt gesehen hatten. Womöglich war der Pilot nicht geflohen. Vielleicht suchte er die Dächer Manhattans nach Überlebenden ab. Und vielleicht gab es noch andere wie ihn, Menschen, die ihre Hoffnung nie verloren hatten und von denen jetzt die Zukunft abhing.
    Wir verließen die Zentrale, fanden ein Treppenhaus und stiegen über die Toten auf den Stufen nach oben. Tyler durchsuchte einige nach einem Feuerzeug und wurde bald fündig.
    Wir brauchten ewig für die fünf Etagen zum Erdgeschoss, und dann lagen noch immer achtzehn vor uns bis zum Dach. Aber wir wagten es nicht, den Aufzug zu nehmen. Die Lichter flackerten nun immer öfter, und einmal, auf Höhe des ersten Untergeschosses, gingen sie ganz aus. Im Parterre verließen wir den dunklen Schacht und traten in die riesige Glashalle, die vom Flammenrot des Herbstabends erfüllt war. Irgendwo draußen bellte ein Hund, ein zweiter antwortete ihm, und das machte mir trotz des Anblicks vor den Scheiben Mut.
    Als die Deckenlampen wieder ansprangen, setzten wir unseren Aufstieg fort. Emmas Herz schlug unermüdlich wie eine Maschine. Trotzdem bestand Tyler darauf, sie einen Großteil des Weges zu tragen. Es kostete ihn seine letzten Kräfte, aber schließlich erreichten wir das Dach.
    Der Himmel loderte in Karmesin, durchwoben von dunklem Violett. Ein kühler Wind wehte vom Wasser über die Stadt, während wir Material sammelten, das wir zu einem
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