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Phantasmen (German Edition)

Phantasmen (German Edition)

Titel: Phantasmen (German Edition)
Autoren: Kai Meyer
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Signalfeuer aufschichten konnten. Zuletzt gingen Tyler und ich noch einmal ins Gebäude und suchten in den Büros der obersten Etage Brennbares zusammen: Aktenordner, Tischbeine, eine Kiste mit Symbolen des Tempels, das hölzerne Kreuz mit Strahlenkranz.
    Draußen steckten wir alles in Brand, setzten uns neben das Feuer und hielten uns gegenseitig warm. Geduldig sahen wir zu, wie unsere Rauchsäule am Himmel mit dem Dunst all der anderen verschmolz, die aus dem Häusermeer Manhattans ins Abendrot aufstiegen.

ÜBERLEBENDE

49.
    Ich schlief vierundzwanzig Stunden auf einem Feldbett, aber erst, nachdem mir eine Ärztin versichert hatte, dass mit Emma alles in Ordnung sei. So »in Ordnung« man eben sein konnte, wenn man tot gewesen und danach ziemlich grob ins Leben zurückgeholt worden war. Sie hatte ein paar angeknackste Rippen von meiner Herzdruckmassage und unter der Brust ein Hämatom in der Form des Staates Illinois; es war auch ungefähr so groß.
    Auf den Rollbahnen des Newark Airport, westlich des Hudson, waren Feldlazarette und Unterkünfte in riesigen Militärzelten errichtet worden, eine Zirkusstadt in Tarnfarben. Die Überreste der Armee und der Nationalgarde waren heillos überfordert, aber sie taten ihr Bestes, um die Menschen zu versorgen, die von Helikoptern aus dem Umland eingeflogen wurden. Alle Straßen waren verstopft von Autowracks und der Luftweg war vorerst der einzige, auf dem Überlebende transportiert werden konnten. Auf den ersten Blick schienen es eine ganze Menge zu sein, aber schon kurz nach der Ankunft wurde mir klar, dass es erschütternd wenige waren im Vergleich zu den Leichenbergen, die wir in den Straßen gesehen hatten.
    Emma, Tyler und ich waren nur drei unter Hunderten, die in der ersten Welle von den Dächern Manhattans hinüber nach New Jersey gebracht worden waren. Wir wurden notdürftig versorgt und dann ließ man uns schlafen, solange wir wollten, vermutlich weil man froh war über jeden, der den Helfern nicht im Weg stand und die niedergeschlagene Stimmung im Lager nicht durch Weinkrämpfe oder große Reden verschlimmerte.
    Im Schlaf hörte ich das Metronom, sah aber keine Bilder dazu; ich wertete das als Fortschritt. Beim Aufwachen, noch im Halbschlaf, fasste ich mit abwegiger Tatkraft den Vorsatz, so schnell wie möglich Valis von Philip K. Dick zu lesen oder eines seiner anderen Bücher. Tyler erzählte mir später, dass sich bei Dick das Leben seiner Helden oft als Fiktion entpuppte, ihre Wirklichkeit als Simulation in ihren Köpfen. Ich bin nicht sicher, ob ich das in meinem Fall beruhigend oder Furcht einflößend fände.

50.
    Am dritten Abend fand zwischen den Zelten eine Art Party statt, wobei niemand zu sagen vermochte, ob es sich um eine Totenfeier oder ein Freudenfest handelte. Die Meinungen dazu waren geteilt, und so bildeten sich zahllose Gruppen, die sich über das Gelände verteilten. Die einen schwiegen oder beteten oder erzählten Geschichten von toten Angehörige und Freunden. Die anderen versuchten die Atmosphäre durch Musik zu lockern. Es gab ein wenig Alkohol, der ganz unvermeidlich ins Lager geschmuggelt worden war, aber nicht genug, als dass gegen Ende des Abends nicht doch die meisten durch Tränenschleier in die Lagerfeuer starrten und irgendwann sogar die Geschwätzigsten verstummten.
    Emma lag unter Beobachtung im Lazarett und las eines der Bücher, die die Leute von der Nationalgarde aufgetrieben und verteilt hatten. Sie hatte Krieg und Frieden ergattert und sog es mit der Konzentration einer Abschlussschülerin in sich auf. Andere hatten E. L. James erwischt, also hatte Emma schon zum zweiten Mal innerhalb weniger Tage unverschämtes Glück gehabt.
    Gegen Mitternacht stand ich mit Tyler ein wenig abseits der Feuer, jeder mit einem Pappbecher Kaffee, und endlich fasste ich mir ein Herz und fragte ihn, wie er den Abschied von Flavie verkraftete. Ich hatte mich lange vor dieser Frage gedrückt. Aber schließlich war es mir wichtiger, dass er wusste, wie sehr ich mir darüber Gedanken machte.
    »Ich hab mich schon vor drei Jahren von ihr verabschiedet«, sagte er. »Das dazwischen, die neue Hoffnung nach den Bildern aus Spanien und auf dem Weg dorthin, fühlt sich an wie ein Traum. Nicht so, als hätte es einen echten Grund dafür gegeben. Wie etwas, das man sich einredet, obwohl man es eigentlich besser weiß.«
    Ich meinte ihn zu verstehen und nickte.
    »Ich hab so lange um sie getrauert. Jetzt will ich das nicht mehr.«
    »Kann man das einfach
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