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Phantasmen (German Edition)

Phantasmen (German Edition)

Titel: Phantasmen (German Edition)
Autoren: Kai Meyer
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Osten nach Westen, blieben dabei auf der Stelle stehen, sagten nichts, taten nichts. Blickten nur mit leeren Mienen mitten ins Licht, als erinnerten sie sich an etwas, das sie schon einmal gesehen hatten.
    Achtzehn Monate nach Tag null gewöhnten wir uns allmählich an sie. Sie taten keinem etwas. Man konnte durch sie hindurchgehen und spürte nicht einmal ein Frösteln. Es gab sie längst überall auf der Welt, täglich kamen Hunderttausende dazu. Aber selbst solche Zahlen hatten ihren Schrecken verloren. Dabei strahlte jeder Geist so viel Helligkeit ab wie eine Straßenlaterne. Vierundzwanzig Stunden am Tag. Vor allem in den Häusern war das Totenlicht zu einem ernsten Problem geworden.
    Das Totenlicht und die Erinnerungen.
    »Vielleicht hat ihn ein Trucker gejagt und abgedrängt«, sagte Emma neben mir auf dem Beifahrersitz. »Ich hab das mal in einem Film gesehen.«
    »Wahrscheinlich ist er einfach am Steuer eingeschlafen.«
    Geist und Felsen blieben hinter uns zurück. Zu beiden Seiten der Straße öffnete sich wieder die gelbgraue Weite der Wüste. Am Horizont wellten sich weiße Bergzüge, deren faltige Kalksteinausläufer in die Ebene reichten wie Tentakel eines zerknüllten Papierkraken. Dazwischen immer wieder Teppiche aus verbranntem Gras, knorpelige Felsbuckel und die Stämme abgestorbener Bäume.
    Ich gab mir Mühe, angesichts dieser Einöde nicht an Afrika zu denken. Als wir die Autobahn verlassen hatten und der erste Kaktus in Sicht gekommen war, hatte ich eine meiner Toleranzproben gemacht: Ich war ausgestiegen und langsam darauf zugegangen. Dann hatte ich meinen Finger auf einen der Stachel gedrückt, bis an der Spitze ein Blutstropfen leuchtete. Sonst war nichts geschehen, abgesehen vom üblichen Herzrasen, von leichter Übelkeit und einem ziemlich trockenen Mund. Gerade mal eine Drei auf meiner Afrika-Phobie-Skala von eins bis zehn. Alles unter fünf ist erträglich, über sieben wird es schlimm.
    Wir hatten die Fenster heruntergekurbelt. Emmas hellblondes Haar wirbelte im Fahrtwind. Sie hatte sich das hübsche, ein wenig hohlwangige Gesicht mit Sunblocker eingecremt, obgleich ich mich nicht erinnern konnte, sie je mit einem Sonnenbrand gesehen zu haben. Ihre blasse Haut wurde so wenig rot wie braun, das war schon immer so gewesen. Sie hatte blaue Augen wie ich, aber ihre lagen tiefer und sahen stets nachdenklich aus. Dabei konnte man niemals sicher sein, ob sie gerade tiefsinnig grübelte oder all ihre Aufmerksamkeit einem geplatzten Insekt auf der Windschutzscheibe widmete. Sie interessierte sich für die absurdesten Dinge, sah Schönheit in Hässlichem und Beunruhigendes in einem Blumenstrauß. Manchmal kam es mir vor, als wäre all das für sie ein Fenster, durch das sie etwas erblickte, das nur für ihre Augen bestimmt war. Vielleicht nichts Angenehmes, aber Emma dachte nicht in solchen Kategorien. Für sie war alles faszinierend: Gutes wie Böses, Schönes wie Hässliches.
    Vor langer Zeit hatte meine Mutter gesagt, die kleine Emma sei wie ein Sechser im Lotto. Und es stimmte, ich kannte niemanden, der auch nur annähernd war wie Emma. Sie war hochbegabt, glaube ich heute, obwohl meine Eltern sie nie auf eine besondere Schule geschickt haben. Nach dem Tod der beiden hatten unsere Großeltern freie Bahn und versuchten auf ihre Weise, Emmas Schale zu durchbrechen: mit erdrückender Nähe und großzügigen Geschenken, mit doppeltem Nachtisch, doppeltem Taschengeld und dreifachen Liebesbekundungen, morgens, mittags und abends. Emma ließ es mit Gleichmut über sich ergehen, hob gelegentlich eine Braue oder erwiderte unbeholfen eine Umarmung. Sie hatte die beiden Alten gern, was ich nie verstand, aber notgedrungen respektierte. Es hatte mir nicht viel ausgemacht, dass Emmas zweiter Nachtisch meiner war, ebenso wie das Taschengeld, von der Nestwärme ganz zu schweigen. Meine Großeltern mochten mich so wenig wie ich sie. Das war unsere einzige Gemeinsamkeit. Wir hielten es so lange miteinander aus, bis ich mit der Schule fertig war und den nächsten Flieger nach Nairobi nehmen konnte.
    Natürlich hatten sie mich gewarnt. Und dafür, dass sie Recht behalten hatten, hasste ich sie gleich noch mehr.
    »Wir sind bald da«, sagte Emma. Ohne hinzusehen, fuhr sie mit der Fingerspitze über eine eingerissene Straßenkarte. Man hätte meinen können, dass jemand wie sie großen Wert auf Ordnung legte, dass sie beispielsweise Dinge der Größe oder Farbe nach sortierte. Doch genau das Gegenteil war der Fall.
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