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Phantasmen (German Edition)

Phantasmen (German Edition)

Titel: Phantasmen (German Edition)
Autoren: Kai Meyer
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abschalten?«
    »Man kann’s versuchen.«
    Wir stießen mit dem kalten Kaffee an und ich glaube, dass wir lächelten.

51.
    Zwei Wochen später verließen Tyler, Emma und ich das Lager zu Fuß über die Newark Bay Bridge. Unter einem grauen Himmel wanderten wir den New Jersey Turnpike entlang und bemühten uns, nicht in die verkeilten Autowracks zu blicken. An der Anlegestelle hinter dem Liberty National Golf Course fanden wir Boote; Tyler suchte eines aus und brachte den Motor in Gang. An einem kalten Novembernachmittag legten wir ab und fuhren auf dem Hudson nach Norden.
    Noch hatte niemand begonnen, hinter der Apokalypse aufzuräumen. Im Lager hatten Gerüchte kursiert, dass es jeden Tag von neuem losgehen könnte, auch wenn es dafür keine Anzeichen gab. Ein Grund dafür war wohl, dass niemand je herausgefunden hat, wie die Smilewaves gestoppt worden waren und was die Erscheinungen hatte verschwinden lassen.
    Ich kann nicht mehr sagen, was ich fühlte und dachte, während wir den Fluss hinauffuhren, zurück auf demselben Weg, den wir mit Havens Hubschraubern gekommen waren. Wir passierten Manhattan und die grauen Industriegebirge der Vorstädte, um schließlich in grünere Gegenden zu gelangen. Natürlich waren wir nicht die einzigen Flüchtlinge auf dem Wasser. Es gab Hausboote und Jachten, sogar selbst gebaute Flöße. Was uns alle verband, war die Tatsache, dass niemand wusste, wovor er eigentlich floh.
    Einmal beobachtete ich, wie Tyler etwas über Bord warf. Er bemerkte nicht, dass ich dabei zusah. Ich bin sicher, es war eine silberne Disc, die er aus der Innentasche seiner Jacke gezogen hatte.
    Hinter Poughkeepsie verließen wir den Fluss. Leere Autos gab es genug, wir hatten die freie Wahl, aber Tyler bestand darauf, dass wir zwei Motorräder nahmen. Emma saß mit auf seinem, während er mir beibrachte, wie ich selbst eines lenken konnte. Es dauerte eine Weile, aber schließlich hatte ich die Maschine gut genug im Griff, um unsere Reise in gemächlichem Tempo fortzusetzen. Auf den Bikes konnten wir die meisten Blechfriedhöfe auf den Straßen umfahren und erreichten schließlich Woodstock. » Das Woodstock!«, freute sich Emma und lächelte.
    Hinter dem Ort fuhren wir weiter bergauf in die Catskill Mountains. Eine Menge Leute aus der näheren Umgebung hatte hier Zuflucht gesucht, aber es gab ausreichend leer stehende Berghütten und Wochenendhäuser für alle. Die meisten Besitzer würden nie wieder Anspruch darauf erheben.
    Tief in den Bergen bogen wir von einer maroden Asphaltstraße ab und folgten einem Schild mit der Aufschrift Peterson Estate . Die Namensgleichheit mit dem Lionheart-Arzt war Zufall, aber er war der Einzige, der es gut mit uns gemeint hatte, und so erschien uns das wie ein gutes Omen. Nach drei Kilometern fanden wir am Ende des Weges ein Holzhaus mit sechs Zimmern und überdachter Veranda, einem offenen Kamin und reichlich Holzvorräten und Benzinreserven für den Generator. Tyler fuhr zurück zur Straße und entfernte das Schild, damit kein anderer auf die Idee kam, hier nach einer Unterkunft zu suchen. In der Speisekammer gab es eine Menge Konserven und Spaghetti. Nur das gefrorene Wild in der Tiefkühltruhe war nach dem letzten Stromausfall verdorben und stank erbärmlich. Es dauerte zwei Tage, bis der Geruch verflogen war.
    Die Petersons mochten daheim in Albany oder in einer der Blechlawinen auf den Straßen ums Leben gekommen sein. Wir ließen ihre Fotos im Wohnzimmer hängen, weil es sich anfühlte, als wären wir ihnen das schuldig. Sie waren ein gepflegtes Paar mit zwei hübschen Kindern; auf dem jüngsten Bild mochten die Eltern um die vierzig sein, das blonde Mädchen sieben, der Junge etwas älter. In einem Bücherregal entdeckte Emma Doktor Schiwago , Anna Karenina und Der Meister und Margarita , und sie erklärte, sie befände sich ab sofort in einer »russischen Phase«.
    Tyler und ich machten lange Spaziergänge durch die verschneiten Wälder und begegneten gelegentlich anderen Überlebenden, die in den Ferienhäusern in der Umgebung Unterschlupf gefunden hatten. Wir winkten einander zu, pflegten aber keine nachbarschaftlichen Kontakte. Vielleicht war der Verlust von Vertrauen ein Preis, den wir alle für Ruhe und Frieden zahlen mussten.
    Wir blieben bis zum Ende des Winters in den Catskills. Emma lernte Russisch aus einem Lehrbuch, das sie zwischen ein paar anderen auf dem Speicher entdeckt hatte. In der Garage brachte Tyler mir alles über Motorräder bei, bis ich in
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