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Phantasmen (German Edition)

Phantasmen (German Edition)

Titel: Phantasmen (German Edition)
Autoren: Kai Meyer
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ein Ruck durch die Stahltür. Sie glitt einen Spalt weit zur Seite. Durch die Öffnung war das Probandenlabor zu erkennen.
    Haven schob seine Hände hinein und versuchte, den Spalt zu erweitern. Im ganzen Korridor stank es nach seinem verbrannten Haar und nach verschmortem Plastik.
    Ich sah abwechselnd von ihm zum Monitor, auf dem die Probanden sich wie Schlafwandler bewegten, ein wiegender Tanz inmitten des Kabelgewirrs.
    Flavie hob den Kopf.
    Tyler stieß ein Keuchen aus.
    »Emma!«, brüllte ich, lief hinüber zu Haven und versuchte, ihm beim Aufstemmen der Tür zu helfen.
    »Es geht nicht«, rief er durch aufgesprungene Lippen. Aus der Nähe sah ich, dass seine Verbrennungen schlimmer waren, als ich angenommen hatte. Sie mussten ungeheuer schmerzhaft sein.
    »Ich versuch’s trotzdem!« Ich zog meine Jacke aus, schob Haven beiseite und drängte mich mit der rechten Schulter voran in den Spalt. »Schließen Sie Tylers Handschelle auf. Er wird Ihnen helfen!«
    Haven sah zu Tyler hinüber.
    »Nun machen Sie schon!«, fuhr ich ihn an, während ich Hüfte und Brustkorb in die Öffnung zwängte. Es fühlte sich an, als würden jeden Augenblick meine Rippen brechen. Noch immer sprühten Funken, das Metall rundum war glühend heiß.
    »Haven!«, rief Tyler. »Zu zweit können wir es schaffen!«
    Ich drehte den Kopf zur Seite, damit er besser durch den Spalt passte. Mein Blick fiel auf Haven, der jetzt dastand, als wäre auf einmal alle Kraft aus ihm gewichen.
    »Tun Sie’s!«, schrie ich ihn an. Ich hätte gern ins Innere des Labors geblickt, aber das ging nicht mehr. Ich steckte fest, die Augen nach außen gerichtet, kam weder vor noch zurück.
    Endlich setzte der Colonel sich in Bewegung, zog einen kleinen Schlüssel aus der Hosentasche seines Overalls und lief damit auf Tyler zu. Der machte einen Schritt zur Seite, damit Haven an die Handschelle herankam.
    Mein Brustkorb war eingequetscht. Ich kämpfte gegen die Panik an, zappelte mit der rechten Hand im Inneren des Labors, während die linke auf der anderen Seite des Schotts ins Leere griff. Whiteheads grinsender Geist befand sich zwischen Emma und mir, aber daran verschwendete ich im Augenblick kaum einen Gedanken.
    Tyler streifte die Handschelle ab und kam mit Haven zurück zur Tür. Er sagte etwas, das mich beruhigen sollte, aber ich hörte ihn kaum, so laut rauschte das Blut in meinen Ohren. Die beiden versuchten, die Tür weiter zur Seite zu schieben, waren sich dabei gegenseitig im Weg, von mir ganz zu schweigen, aber trotzdem gelang es Tyler schließlich, genügend Halt zu finden. Mit aller Kraft stemmte er sich gegen den Stahl.
    »Fester!«, brüllte Haven, ging in die Hocke und drückte weiter unten gegen den Rand des Schotts.
    Eine Funkenkaskade schoss zwischen uns hervor wie Silvesterfeuerwerk. Dann gab die Tür um einige Millimeter nach. Mit einem Ächzen glitt ich hindurch, stolperte auf der anderen Seite einen Schritt vorwärts, taumelte, fiel auf die Knie und sprang gleich wieder auf.
    Whiteheads Geist stand in der Mitte des Labors, transparenter als alle anderen Erscheinungen, die ich bislang gesehen hatte. Von den Probanden drang ein Stöhnen und Ächzen herüber. Aus derselben Richtung kam lautes Ticken.
    Ich rannte los, Schmerzen im ganzen Körper, unsicher, ob nicht doch ein paar Rippen gebrochen waren. Aber das kümmerte mich jetzt nicht mehr. So wenig wie das Pochen meines Herzens, das immer lauter und schneller wurde.
    Vor den Probanden bewegte sich das riesige Metronom wie ein auf den Kopf gestelltes Pendel. Es war im Boden verankert, ein mannsgroßer Zeiger, der in einer fächerförmigen Bahn vor und zurück schwenkte. Auf die Wand dahinter wurde Salazars dunkle Augenpartie projiziert, während aus einem Lautsprecher seine Stimme erklang und auf Spanisch monotone Wortfolgen wiederholte.
    Über allem lag das Ticken wie der Takt einer Uhr, die allmählich ablief.
    Jemand schrie. Ein lang gezogenes, verzweifeltes Kreischen, zu hoch für einen Mann. Falls das Emma war, dann war es zumindest ein Lebenszeichen. Sie musste zwischen den Probanden und dem Metronom liegen, zu Füßen von Flavie. Tische und Ablagen waren im Weg, ich konnte meine Schwester nicht sehen, aber auch keinen Geist, und das machte mir Hoffnung.
    Ich musste an Whitehead vorbei, hatte ihn jetzt fast erreicht. Mein Herz raste. Die ersten Probanden befanden sich knapp zehn Meter entfernt in ihren Aufhängungen, das Ende der Reihe – Flavie – war fast doppelt so weit entfernt.
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