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Phantasmen (German Edition)

Phantasmen (German Edition)

Titel: Phantasmen (German Edition)
Autoren: Kai Meyer
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Schläuche und Kabel bewegten sich wie Schlangennester. Die acht Körper erbebten.
    Whiteheads Lächeln verblasste zusehends, während ich auf ihn zu und an ihm vorbeilief. Mein Herz hämmerte wild, aber es fühlte sich bereits weniger schmerzhaft an.
    Ich hatte ihn kaum hinter mir gelassen, als es im Raum plötzlich dunkler wurde. Das Totenlicht verging, zurück blieb der Schein der Neonröhren.
    Verwundert sah ich über die Schulter. Sah den Leichnam des Predigers in einer Blutlache liegen, mit dem Gesicht zur Seite, so als blickte er mir nach, einen stummen Vorwurf im Blick.
    Sein Geist war fort.
    Im Hintergrund stemmten Tyler und Haven sich gegen das Schott und versuchten den Spalt weiter zu vergrößern.
    Ich stürmte an den vorderen Probanden vorbei. Salazars Hypnose hatte sie am Leben erhalten, hatte Emma gesagt: Aber echtes Leben ist das nicht. Tomasz hatte eine Weile durchgehalten, nachdem er erwacht war, dann hatte der Tod ihn eingeholt. Diese acht aber hatten weit Schlimmeres durchgemacht, waren anders als Tomasz und die Probanden aus der Hot Suite niemals zur Ruhe gekommen. Whitehead hatte sie wieder und wieder an die Schwelle der Kammern getrieben – bis sie einen Weg gefunden hatten, von dort aus zurückzuschlagen.
    Nun erwachten sie und kehrten heim. Vielleicht würden sie eine Weile durchhalten wie Tomasz, doch ihre Zuckungen ließen bereits nach, erschlafften zu einem Zittern. Einige hatten die Augen geöffnet; ich konnte nicht erkennen, wer von ihnen blind war und wer nicht. Kahl geschoren, mager und weißhäutig sahen sie einander auf furchtbare Weise ähnlich.
    Emma lag am hinteren Ende der Reihe. Der Schatten des Metronoms strich über sie hinweg, vor und wieder zurück. Das Licht von der Leinwand warf ihn auf die Probanden.
    »Emma!«
    Ich rollte sie auf den Rücken. Suchte den Puls an ihrer Halsschlagader und fand ihn nicht. Hastig ergriff ich ein Handgelenk.
    Nichts.
    »Bitte nicht …«
    Ich spürte, dass Flavie sich über uns in ihrer Aufhängung regte, dass sie dort hing wie eine Spinne in ihrem Netz, eingewoben in das Wirrwarr der Kabel. Sie war blind, und doch war mir, als schaute sie auf uns herab, und ich fragte mich, ob sie in der Lage war zu erfassen, was sie angerichtet hatte. Dass ihr Hass und ihre Verbitterung Millionen getötet hatten.
    Ich hockte mich über Emmas schmalen Oberkörper, mit dem Rücken zu Salazars loderndem Blick, froh, das Metronom nicht sehen zu müssen, wenngleich mir das Ticken in den Ohren dröhnte. In Afrika hatte ich gelernt, was zu tun war, Herrgott, ich hatte dasselbe schon für Tyler getan, als er am blauen Haus fast gestorben war. Und doch war ich wie gelähmt, als ich begriff, dass Emma tot war. Kein Pulsschlag, kein Atmen. Sie war unterwegs dorthin, von wo Flavie und die anderen gerade zurückgekehrt waren.
    Ich überkreuzte meine Handflächen unterhalb ihrer Brust und presste. Dreißig Mal hintereinander. Beugte mich über sie, streckte ihren Kopf nach hinten, hielt ihr die Nase zu und beatmete sie mit bebenden Lippen, schmeckte das Salz meiner Tränen, setzte mich wieder aufrecht und pumpte erneut.
    Der Schatten des Metronoms blieb stehen und verschmolz mit dem Grau der Umgebung. Salazars Stimme verstummte und der Schein der Leinwand verschwand wie das Totenlicht. Jemand hatte die Projektion gestoppt und das furchtbare Ticken zum Schweigen gebracht.
    Ich massierte Emmas lebloses Herz, gab ihr Sauerstoff, presste erneut. Dreißig Mal pumpen, dann beatmen. Und nur nicht daran denken, was sie mir bedeutete. Dass ich keinen Grund haben würde, zu leben, wenn sie nicht lebte. Dass sie alles war, was ich auf der Welt noch hatte.
    Tyler stand neben mir, aber das spürte ich mehr, als dass ich es sah. Er zögerte, hin- und hergerissen zwischen uns und Flavie. Aber er konnte nichts für Emma tun, und so machte er einen Schritt nach vorn auf das Mädchen in der Aufhängung zu. Während ich die Herzdruckmassage fortsetzte, während ich weinte und wortlos flehte, warf ich einen kurzen Blick nach oben zu den beiden.
    Tyler kappte Kabel und Schläuche mit einem Messer, das er von Haven bekommen haben musste, eine Klinge, wie Soldaten sie benutzten, eine Seite gerade, die andere gezackt. Sorgfältig durchschnitt er jede einzelne Verbindung zwischen Flavie und der Maschine.
    Ich konzentrierte mich weiter auf Emma, zählte und atmete für sie, presste erneut auf ihr Herz. Meine Arme spürte ich nicht mehr, mein ganzer Körper fühlte sich taub an.
    Dann sah ich,
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