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Phantasmen (German Edition)

Phantasmen (German Edition)

Titel: Phantasmen (German Edition)
Autoren: Kai Meyer
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nicht mehr aus dem Kopf.
    Emma und ich hatten unsere Infrarotmasken dabeigehabt, als wir mit Haven nach unten gefahren waren. Sie mussten hier irgendwo sein, nicht auf dem Schaltpult, wenn ich mich recht erinnerte, sondern auf einem der leeren Drehstühle. Falls ich sie fand –
    Ein Schuss krachte, stark gedämpft durch Wände und Türen. War das Emma? Mir wurde todschlecht. Falls Haven ihr die Pistole gegeben und sie bereits zu Whitehead vorgestoßen war, dann feuerte sie womöglich gerade auf den Prediger.
    Meine linke Hand stieß gegen etwas Weiches. Die Rückenlehne eines Stuhls. Ich packte sie und zog mich ganz eng heran. Die Sitzfläche war leer.
    Da fiel ein weiterer Schuss.
    Ich nahm die rechte Hand vom Stuhl, hielt ihn mit links weiter fest und tastete nach dem nächsten Sitz. Zu weit entfernt. Vorsichtig machte ich einen Schritt nach vorn und erreichte das Schaltpult. Meine Fingerspitzen glitten über Knöpfe und Regler. Ich schob mich an der Kante weiter nach rechts und fand schließlich den zweiten Stuhl.
    Darauf lagen die Infrarotbrillen, ein Geschlinge aus breiten Elastikbändern und klobigem Kunststoff. Ich wollte mir eine über den Kopf ziehen, als irgendwo eine Maschine ansprang. Es klang wie der Motor eines Ventilators, leise und unaufdringlich.
    Einen Augenblick später schalteten sich die Monitore ein. Sie erschienen auf einen Schlag inmitten der Schwärze, ihr Bild flackerte auf und erlosch wieder. Ich sah nur eine Mauer aus vierundzwanzig grauen Rechtecken, aber weil auch die Lautsprecher mit einem Knacken zum Leben erwachten, hörte ich eine Stimme.
    »Wer hat dir die Waffe gegeben?«, fragte Timothy Whitehead in einem Furcht einflößenden Flüsterton. »Haven, können Sie mich hören? … Haben Sie geglaubt, Sie könnten ein Kind zu mir schicken, das mich tötet? Ich habe die Pistole der Kleinen … Hier, hören Sie!«
    Ein dritter Schuss ertönte, diesmal aus den Lautsprechern und mit solcher Wucht, dass ich instinktiv die Hände auf meine Ohren presste. Meine rechte Schläfe reagierte darauf mit einem mörderischen Stich, der mich fast in die Knie zwang.
    »Was halten Sie davon, Haven?«, fragte Whitehead im Tonfall eines Mannes, dessen Verstand sich längst aus der Wirklichkeit verabschiedet hatte. »Hier wird nur eine sterben, und das ist Ihre kleine Attentäterin!«
    »Nein«, flüsterte ich.
    Die Monitore zeigten noch immer gleichförmiges Grau. Wie hier waren auch im Probandenraum keine Lichter angegangen, Emma und Whitehead befanden sich in völliger Finsternis. Im schummrigen Schein der Bildschirme konnte ich nun immerhin meine Umgebung erkennen. Ich war allein.
    »Emma?«, rief ich, in der Hoffnung, dass das Mikrofon noch eingeschaltet war. »Emma, falls du mich hören kannst, dann geh hinter den Probanden in Deckung! In ihre Richtung wird er im Dunkeln nicht schießen.«
    Whitehead sagte nichts und auch Emma gab kein Lebenszeichen von sich. Aber falls er sie getötet hätte, wäre auf den Monitoren ihr Geist zu sehen gewesen. Die Angst um sie schnürte mir die Kehle zu.
    Und was war aus Tyler geworden? Hatte Whitehead ihn gehen lassen?
    Ein metallisches Scharren erklang. Im ersten Moment glaubte ich, es wäre bei mir im Raum – bis mir klar wurde, dass es aus den Lautsprechern kam.
    Whitehead drückte erneut ab, und ich sah, wie das Mündungsfeuer einen Teil des Probandenraumes in Schlaglicht tauchte – nur für einen Sekundenbruchteil, aber auf den Monitoren blieb es als Nachbrenner sichtbar.
    Einen Atemzug lang erkannte ich einen verpixelten Umriss, ehe er wieder mit dem Grau verschmolz. Eine schmale Gestalt, aufrecht und die Arme nach vorn gestreckt. Mit beiden Händen hielt Emma eine Waffe. Da es nicht die sein konnte, die Whitehead ihr abgenommen hatte, musste es sich um jene handeln, die der Prediger vorhin auf den Tisch gelegt hatte. Emma hatte sie gefunden. Und durch den Mündungsblitz wusste sie, wo Whitehead stand.
    Der Schuss, der im nächsten Augenblick aus den Lautsprechern peitschte, klang heller als die vorangegangenen. Noch einmal erschien Emmas Umriss wie in grellem Blitzlicht.
    Kein Schrei ertönte, nicht einmal ein Schmerzenslaut. Dann wurden die Monitore in Totenlicht getaucht. Nicht weit von Emma entstand eine Erscheinung.
    Whiteheads Geist trug ein boshaftes Lächeln.

46.
    »Emma, raus da!«, brüllte ich ins Mikrofon.
    Ich sah, wie sie im Schein des Totenlichts die Waffe sinken ließ und zurückwich. Alle vierundzwanzig Monitore zeigten dasselbe
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