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Paul ohne Jacob

Paul ohne Jacob

Titel: Paul ohne Jacob
Autoren: Paula Fox
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sein Großvater sah aus, als fühlte er sich verpflichtet, ihm die Predigt zu erklären.
    Der Artist und das Mädchen gaben überall Vorstellungen, auf Bergen und in Tälern. Der Artist kniete sich auf den Boden und warnte die Zuschauer, dass zart besaitete Gemüter wegsehen sollten, wenn er sich jetzt daranmachte, die Ketten zu sprengen, die um seine Brust gewickelt waren. Das Mädchen, das als Clown zurechtgemacht war, spielte auf einer verbeulten Trompete. Auf dem Kopf trug sie einen kleinen, steifen schwarzen Hut. Rings um die Augen waren mit schwarzem Stift übertrieben lange Wimpern aufgemalt. Ihr Zuhause war ein kleiner Wagen mit gardinenverhangenen Fenstern, der an ein Motorrad angehängt war. Aber an einem bitterkalten Tag verließ der Artist sie. Nach langer Zeit kehrte der Mann in das steinige Dorf zurück, in dem er das Mädchen zum ersten Mal gesehen hatte. Auch sie war zurückgekehrt, jedoch nur zum Sterben. Die letzte Szene im Film hatte den Mann gezeigt, wie er sich an einem Maschendrahtzaun festkrallte und weinte. Er trauerte um das Mädchen und um ihre Liebe zu ihm.
    »W ie konnte ihr der Artist nur leidtun? Er sah aus, als würde er jederzeit ein Pferd erwürgen, wenn er nur die Gelegenheit dazu bekäme. Es war so blöd von ihr, ihn zu lieben, so dumm!«, rief Paul in die stille Straße hinaus.
    Grandpa seufzte. Paul wusste, woran das lag. Es kam daher, dass sein Grandpa meinte, er müsste Paul erklären, worum es in der Filmgeschichte wirklich ging. Paul biss verärgert die Zähne zusammen. Er konnte sich nicht daran erinnern, jemals zuvor auf Grandpa böse gewesen zu sein.
    »In der Liebe liegt Erbarmen«, sagte Grandpa nach langem Schweigen. »Mehr kann ich dazu nicht sagen.« Er hörte sich hilflos an. Auch das geschah zum ersten Mal.
    Als sie nach Hause kamen, fragten Mom und Daddy wie aus einem Mund, wie Paul der Film gefallen hatte.
    »Er hat mir nicht gefallen«, sagte Paul und starrte auf seine Turnschuhe hinunter.
    Nach dem Abendessen ging er geradewegs in sein Zimmer. Grandpa war mit Jacob unterwegs. Sie machten ihren Spaziergang.
    Bevor Paul in seinem Zimmer das Licht anknipste, zog er die Jalousie an dem Fenster zum Garten hoch. In der Fensterscheibe brachen sich Lichter von anderen Häusern.
    Ganz von selbst, ohne eigenes Zutun, tauchte das Mädchen aus La Strada vor seinem geistigen Auge auf. Sie stand unter den Ästen eines Ahorns im Garten.
    Wie der Baum hieß, hatte er im Lauf der Sommermonate gelernt. Er hatte auch die Namen von Blumen und Sträuchern und Insekten gelernt.
    Das Mädchen hatte diesen schwarzen Hut auf, der wie ein umgestülpter Topf aussah. Sie setzte die ramponierte Trompete an die Lippen, um das traurige Lied ohne Text zu spielen, das sich wie ein vom Wind getriebener Papierfetzen durch den Film gezogen hatte.
    Als der Artist sie an einem eiskalten Nachmittag auf dem einsamen Bergpfad verlassen hatte, war er wenige Minuten später zurückgekehrt und hatte sie mit Lumpen zugedeckt. Ob sein steinernes Herz doch erweicht worden war?
    Gleich darauf konzentrierte sich Paul in seinen Gedanken auf die Schule: wie er am nächsten Donnerstag die sechste Klasse betreten würde, was er anziehen, welche Miene er aufsetzen sollte. Schließlich war er der Neue.

DIE AUTOBIOGRAFIE
     
     
     
     
     
     
    Im ersten Halbjahr der sechsten Klasse, im November, prügelte sich Paul mit Robert Brown.
    »W ie geht’s dem Kretin?«, hatte er Paul an einem bleigrauen Nachmittag zugerufen, als die Klasse sich leerte. Robert war in der fünften Klasse sitzen geblieben. Er konnte keinem Lehrer eine Frage beantworten und er ließ dauernd seine Schulbücher fallen.
    Paul hatte mit ihm gerauft, obwohl er auf eine Schlägerei nicht scharf war. Es war, als kämpfte man mit einer Vogelscheuche, Lumpen statt Kleider und Stöcke statt Knochen. Aber mit einem Mal biss ihn Robert ins rechte Ohr und es blutete.
    »Ach, Paul!«, rief die Schulschwester aus. »Man darf sich doch nicht prügeln. Trotzdem … es war anständig von dir, so treu zu deinem Bruder zu halten. Du bist so ein guter Bruder.«
    Woher wusste sie, dass er einen Bruder hatte? Wusste die ganze Stadt Bescheid? Er sagte sich, dass er von dem Biss bestimmt Tollwut kriegen würde.
    »Robert weiß ja gar nicht, was er da sagt«, sagte sie und drückte ihm einen Verband ans Ohr.
    Aber Robert wusste das sehr wohl! Und seine Worte bohrten sich wie Glassplitter in Pauls Herz. Das lag vermutlich daran, dass Paul irgendwo in seinem Inneren
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