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Paul ohne Jacob

Paul ohne Jacob

Titel: Paul ohne Jacob
Autoren: Paula Fox
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Gang ein, die Türen gingen zu. Paul hatte das Gefühl, als wäre eine schwere Last von ihm abgefallen.
    Jetzt kam der gute Teil des Tages, an dem er nicht an Jacob dachte. Er dachte auch nicht an seine Eltern, an Mutter und Vater, die, soweit es Jacob anbetraf, seine Feinde geworden waren.

JACOB KOMMT NACH HAUSE
     
     
     
     
     
     
    Vor fastsieben Jahren war Jacob, bis zur Nase in eine blaue Decke eingewickelt, eines Morgens ins Wohnzimmer des New Yorker Apartments gebracht worden, in dem Paul mit seinen Eltern, Dr. und Mrs Coleman, damals wohnte. Paul spielte mit Grandpa Coleman Schach und hatte gerade gewonnen. Grandpa tat nicht nur so, als hätte er verloren, so wie Daddy es immer machte – das wusste Paul genau. Wenn Paul Grandpas Könige erledigte, war das ein echter Sieg.
    »Da ist Jacob«, sagte Grandpa und schaute dabei Paul an.
    Auch seine Mutter sah ihn an. »Da ist dein Bruder«, sagte sie leise. »Und ich bin auch wieder da.«
    Paul war befangen gewesen; er hatte Mom eine Woche lang nicht gesehen. Lächelnd schaute er aufs Schachbrett hinunter. Als er aufsah, stellte er fest, dass die Decke vom Kopf des Babys gerutscht war. Und es sah aus, als käme aus seinem Mund eine riesige, weiße Kaugummiblase, die fast das ganze Gesicht verdeckte.
    »Oh!«, rief Mom aus. Sie ging mit Daddy ins Elternschlafzimmer. Durch die offene Tür konnte er sie sehen. Sie hatte Jacob in Pauls altes Gitterbett gelegt und putzte ihm mit einem Tuch den Mund ab, während er wie ein junger Hund quiekte.
    Dieses Geräusch durchzuckte Paul, als hätte er einen Glassplitter angefasst. Er machte sich daran, die Schachfiguren wieder aufzustellen.
    Grandpa sagte: »Ich muss dir etwas sagen.«
    Er sprach klar und deutlich, mit fester Stimme, die genauso beruhigend wirkte wie eine stützende Hand. Paul hatte keine Ahnung, was jetzt kommen würde, aber er schaute über das Schachbrett hinweg zu ihm hin.
    Als Grandpa merkte, dass Paul ihm aufmerksam zuhörte, faltete er seine großen, knotigen Hände und legte sie in den Schoß.
    »Dein neuer Bruder hat etwas Besonderes«, fing er an. »Dafür gibt es einen Namen. Das Downsyndrom. Medizinische Fachbegriffe sind keine schönen Wörter. Für dich ist wichtig zu wissen, dass er nicht so lernen wird wie du. Bei ihm wird alles langsamer gehen. Du wirst Geduld lernen müssen. Vor vielen Jahren, als ich am College studierte, hatte ich einen Teilzeitjob in einer Sonderschule, in der es auch einige Kinder wie Jacob gab. Ein paar davon hab ich richtig ins Herz geschlossen. In der Regel sind es fröhliche Kinder. Und es steckt nichts Böses in ihnen, keine Gewalt, kein Krieg.«
    Er legte eine Pause ein. Paul hatte nicht viel davon verstanden, was sein Großvater gesagt hatte, aber er fühlte sich verpflichtet, etwas zu sagen.
    »Ist er ein Monster?«, fragte er.
    »Aber, Paul, du bist mit dem Allerersten herausgeplatzt, was dir in den Sinn gekommen ist«, sagte sein Großvater.
    »Sieht er wie ein Baby aus?«, fragte Paul.
    »Er sieht wie ein Baby aus und er ist auch eins. Seine Augen sind ein bisschen anders als deine. Die Lidspalten sehen nämlich so aus« – Grandpa legte einen Finger links und rechts an die äußeren Augenwinkel und zog leicht daran. »Aber er kann damit genauso sehen wie du mit deinen Augen.«
    »Bei mir war nichts anders, als ich ein Baby war«, stellte Paul fest.
    »Darauf brauchst du dir nichts einzubilden«, sagte sein Großvater. »Babys benötigen sehr viel Hilfe. Das ist bei allen so und bei Kindern wie Jacob ganz besonders. Mit der Zeit könnte sich bei dir das Gefühl einschleichen, dass er viel mehr Aufmerksamkeit bekommt als du. Damit hättest du auch recht. Anders ist es nicht möglich.«
    »W ird Daddy jetzt kein Tierdoktor mehr sein? Und was wird aus Moms Schülern? Bleib ich jetzt zu Hause und geh nicht mehr zur Schule?« Die Fragen strömten Paul aus dem Mund und purzelten wild durcheinander.
    »Ja und nein«, gab sein Großvater zurück. »Daddy wird weiter in der Tierklinik arbeiten und du gehst weiterhin in die Vorschule. Aber deine Mutter wird eine Zeit lang keinen Klavierunterricht mehr geben.«
    Paul warf einen Blick zum Flügel hinüber. Er sah aus wie ein großes Säugetier, das auf dem Teppich äste. In der Schule hatten sie die Säugetiere durchgenommen und sie in einem Bilderbuch betrachtet. Seither sah Paul überall Säugetiere.
    Sechs Kinder kamen einmal in der Woche zum Klavierunterricht. Sie waren alle artig, bis auf Leopold. Er war zehn und
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