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Paul ohne Jacob

Paul ohne Jacob

Titel: Paul ohne Jacob
Autoren: Paula Fox
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Hauseingang der Colemans führte. Jetzt bemerkte Paul, dass auf den grünen Luftballon ein blödes Grinsegesicht gemalt war.
    Bring ich’s eben hinter mich, sagte sich Paul. Und mit dieser Überlegung ging er in schnellem Tempo den Weg zum Haus entlang. Unterwegs überholte er seinen Großvater, ging an ihm vorbei.
    Er machte die Tür auf, die unverschlossen war.
    Im Flur stieß er auf eine Menschenansammlung, die sich um die Treppe scharte. Der Lärm ihrer Stimmen schwoll auf und ab wie die Gezeiten des Meeres.
    Sie standen in kleinen Gruppen beisammen, zu zweit oder zu dritt, und unterhielten sich. Paul erkannte Dr. Newman, die Therapeutin, und Josh, Jacobs ehemaligen Babysitter. Er war letztes Jahr beim Friseur gewesen und hatte sich die Haare stutzen lassen.
    Dann waren noch die beiden Pakistani vom Zeitungsladen da, der Mann von der Theke und die rundliche Köchin aus dem Delikatessengeschäft, die beiden jungen Frauen vom Laden für Grußkarten und Geschenkartikel, Dr. Brill in höchsteigener Person und Miss Greene von der Stadtbücherei.
    Mrs Brandy, die älteste Schülerin seiner Mutter, und ein weiterer Schüler, der junge Mann mit den Ohrringen, bildeten ein eigenständiges Grüppchen, zusammen mit Molly, die auf Jacob aufpasste, wenn Mrs Coleman Klavierunterricht gab.
    Jacobs ganze Umgebung war hier versammelt.
    Paul hörte aus dem zweiten Stock ein lautes »Pst!« von seiner Mutter. Ein zweites »Pst« folgte – Jacobs Stimme, ungestüm und heiser und vor Aufregung bebend.
    Zusammen mit allen anderen schaute Paul nach oben, als Jacobs Schritte auf der Treppe zu vernehmen waren. Er polterte die Treppe immer noch wie ein ganz kleines Kind hinunter, stellte einen Fuß nach unten und zog den anderen nach, sodass er auf jeder Stufe mit beiden Füßen stand.
    Jacob tauchte auf dem Treppenabsatz auf, an dem die Treppe eine Biegung machte. Vor dem Fenster mit der bunten Glasscheibe hielt er an und schaute auf die Menschen hinunter. Sofort verstummte alles.
    In dem Licht, das durch das Fenster fiel, erstrahlte Jacob in hellem Glanz. Er sah aus, als bestünde er aus purem Gold, und wie bei alten Zeichnungen von der Sonne ging von seinem Kopf ein Strahlenkranz aus. Er trug ein goldenes Gewand, hielt in der rechten Hand einen goldenen Stab.
    Wie aus einem Munde stießen alle ein lang gedehntes »Ooooh!« aus.
    Paul musste blinzeln.
    Sein Großvater, der dicht neben ihm stand, flüsterte etwas vor sich hin. Paul meinte, so etwas wie »Ein Leuchten kommt zu uns herab …« zu hören.
    Kurz darauf stieg Jacob das letzte Stück der Treppe hinunter, das um diese Jahreszeit im Dunkeln lag.
    Jetzt konnte Paul Jacobs Kostüm klar und deutlich erkennen. Mom hatte es ziemlich ungeschickt zusammengebastelt. Ein Sonnenstrahl, ein kleiner, mit Goldfolie umhüllter Zapfen, hatte sich gelöst und hing Jacob, von zwei dicken schwarzen Fäden an einem Band um seinen Kopf gehalten, über das linke Auge. An einer aufgeplatzten Naht fiel das goldene Gewand auseinander und gab den Blick auf Jacobs Jeans frei, die vom vielen Waschen eingelaufen war. Die Goldfolie begann sich von dem Stab zu lösen, und Paul konnte sehen, dass es sich um eine verrostete Vorhangstange handelte.
    Jacob kam auf der letzten Treppenstufe an. Die Gäste begannen »Happy Birthday« zu schmettern.
    Er wurde gedrückt und geküsst. Alle, die in ihr Geschäft zurückmussten, verließen die Party, die anderen gingen zum Esszimmer durch, wo das Geburtstagsmahl aufgetischt war.
    Jacob blieb zurück. Er sah Paul an.
    Sein Blick war voller Sehnsucht.
    Er kam einen Schritt näher. Fliederduft stieg Paul in die Nase. Auf Jacobs Gesicht zeichneten sich Puderspuren von einer großen Quaste ab. Offenbar hatte er sich Moms Fliederpuder auf die Wangen geschmiert.
    Pauls Welt hatte sich verrückt und war ein winziges Stück aus den Fugen geraten. Ein Wirrwarr von Gefühlen und neuen Gedanken stürmte auf ihn ein. Nichts davon ergab irgendeinen Sinn.
    Aber ein plötzlicher Impuls überkam ihn und er bückte sich so tief herab, dass Jacob ihn mit Daumen und Zeigefinger in die Nase zwicken konnte. Für so ein unbeholfenes, tapsiges Kind war Jacobs Berührung erstaunlich leicht – so zart wie zwei Schneeflocken, die auf seine Nasenflügel fielen.
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