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Paul ohne Jacob

Paul ohne Jacob

Titel: Paul ohne Jacob
Autoren: Paula Fox
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nach einer kurzen Pause.
    »Meinst du denn, dass andere Leute keine Pro-bleme haben?«, fragte sein Vater plötzlich.
    Paul gab keine Antwort.
    »W ir brauchen deine Hilfe. Du kannst nicht ewig so weitermachen, als ob du keinen Bruder hättest«, sagte sein Vater. Er ließ den Turnschuh zu Boden fallen.
    George hatte einen kleinen Bruder, Matthew. Paul dachte an alle jüngeren Geschwister, die er kannte. Jacob war der Einzige unter ihnen, der so unfertig war.
    »Sein Termin ist um zehn Uhr. Du wirst fünfundvierzig Minuten brauchen, vielleicht eine Stunde. Er spult immer ein ganzes Programm ab«, sagte Daddy.
    Paul hatte nichts davon gewusst, dass Mom mit Jacob samstagvormittags zu Dr. Brill ging, damit er Spritzen gegen seine Allergie bekam. »Daddy«, fing Paul ohne große Hoffnung an, »kannst du ihn nicht hinbringen? Ich möchte das wirklich nicht machen.«
    Das Gesicht seines Vaters wurde wieder weich. »Ich weiß, dass du keine Lust dazu hast«, sagte er. »Aber ich muss in der Klinik arbeiten. Einen Bruder wie Jacob zu haben hat seine guten Seiten, auch wenn du das erst in ein paar Jahren verstehen wirst … wenn du erwachsen bist. Man denkt nicht an Probleme, bis sie einen treffen. Du wirst besser darauf vorbereitet sein. Probleme gibt es immer – auf die eine oder andere Weise.« Er legte eine Pause ein, bevor er weitersprach. »W ir waren nicht darauf vorbereitet«, sagte er so vorsichtig, als müsste er die Worte sorgfältig abwägen. »Jacob stellt deine Mutter und mich auf die Probe. Manchmal fallen wir bei der Prüfung durch. Am nächsten Tag kriegen wir vielleicht eine Zwei.«
    Paul verstand davon nur, dass es endlos Ärger geben würde, wenn er nicht nachgab. Seine Eltern würden sich alles Mögliche einfallen lassen, was sie ihm wegnehmen konnten, sogar Dinge, von denen er gar nicht wusste, dass er sie hatte. Er würde Hausarrest kriegen; er würde nicht mehr telefonieren dürfen; er würde kein Abendessen mehr bekommen! Aber Letzteres war selbst für Paul zu übertrieben.
    Wenn er mit Jacob zu Dr. Brill ging, bedeutete das vor allem, dass er sich nicht darin üben konnte, nicht an ihn zu denken. Jacob würde ihn den ganzen Tag lang verfolgen. Paul wurde ins Familienleben hineingezogen. Das war ein Gefühl wie im Schulbus, wenn er voller Kinder war – warm, eng, feucht.
    Die Samstage waren aus der Woche herausgehoben worden, wurden ihm weggenommen.
    Als sein Vater aufstand und aus dem Zimmer ging, sagte Paul Auf Wiedersehen anstatt Gute Nacht. Später dachte er darüber nach, und als er sich ins Gedächtnis zurückrief, wie verdutzt sein Vater einen Augenblick lang gewesen war, erkannte er, dass er sich nicht versprochen hatte. Er hatte sich von seinem alten Leben verabschiedet … von dem alten Leben, in dem er nicht an Jacob dachte.
    Schon bald wurde es still im Haus. Es legte sich zur Ruhe wie ein Tier, das sich zusammenkuschelt. Jacob schlief in seinem Zimmer. Mom und Daddy saßen jetzt vielleicht am Küchentisch, unterhielten sich womöglich über Paul und sprachen mit leiser Stimme, damit er sie nicht hören konnte.
    Paul ging auf den Flur hinaus, zu der kleinen Abstellkammer, in der die Koffer aufbewahrt wurden. Auch die Winterkleidung hing schon hier, in Beutel verpackt, die nach Mottenkugeln rochen. Es standen Kisten mit Büchern da, für die sich kein Platz gefunden hatte, ein Sammelsurium aus Porzellan- und Glasgegenständen. Von der Decke baumelte eine kahle Glühbirne herab und Paul knipste sie an.
    An der Wand lehnte ein Bild, an das er sich noch aus dem Apartment in New York erinnerte. Darauf war ein Haus mit einer breiten, weißen Veranda zu sehen. Das Haus warf seinen Schatten über eine Rasenfläche, die zu einer strahlend blauen Bucht führte. In ihr lagen kleine Inseln wie lauter Rauchwölkchen.
    Früher hatte Paul oft gespielt, dass er mit Mom und Daddy dort auf dem Rasen ein Picknick machte. Es war Juli und die Sonne schien. Später würden sie in der Bucht schwimmen. Die lange Dämmerung des Sommers würde sich wie eine leichte Decke über sie breiten, um sie im kühlen Abendwind warm zu halten.
    In einer Kiste entdeckte er ein dickes Fotoalbum und er setzte sich damit auf den staubigen Fußboden.
    Er begann darin zu blättern. Es waren Aufnahmen von seinen Eltern, die vor vielen hundert Jahren gemacht worden waren, als sie noch ganz jung aussahen, wie Jugendliche.
    Dann kam er zur Welt. Die Seiten barsten von Fotos. Manche waren bunt, wie billige Bonbons, aber die
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