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Schattenspieler (German Edition)

Schattenspieler (German Edition)

Titel: Schattenspieler (German Edition)
Autoren: Dr. Michael Römling
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»Er soll uns bleiben, was er uns ist und immer war«, schnarrte
die Stimme aus dem Radio.
    Wilhelm verdrehte die Augen. »Unser Hitler«, äffte er den
Minister durch zusammengepresste Lippen nach.
    »Unser Hitler«, echote Goebbels. Die ersten Klänge der
Nationalhymne quollen aus dem Apparat, eingebettet in eine
Geräuschkulisse aus Knacken und Rauschen.
    Leo und er standen am Fenster in Wilhelms riesigem Wohnzimmer
und blickten hinaus auf die Kurfürstenstraße. Hinter
ihnen tickte die Standuhr. Von der Höhe des fünften Stockwerks
aus konnte man durch die ausgebrannten Dächer der
gegenüberliegenden Häuserzeile in die gähnende Leere dahinter
blicken. Der ganze Straßenzug war bis auf wenige Ausnahmen
ein seelenloses Gerippe aus Ruinen, das von Brandschutzmauern
und Fassaden mehr schlecht als recht zusammengehalten
wurde. Die Brände hatten schwarze Schleier über den
klaffenden Fenstern hinterlassen und die Sprengbomben alle
Zwischendecken herausgerissen. An einigen Stellen waren
ganze Häuser regelrecht pulverisiert worden. Die Schutthaufen
lagen wie die Ausläufer von Schneelawinen zwischen den
noch stehenden Häusern auf dem Bürgersteig. Verbogene
Heizungsrohre und Balken ragten in den Himmel. Es war fast
niemand auf der Straße unterwegs.
    »Unser Hitler«, wiederholte Wilhelm verächtlich. »Dürfte
sein letzter Geburtstag gewesen sein. Glückwunsch auch von
uns.«
    »Warum hörst du dir das überhaupt an?«, fragte Leo.
    »Weil ich neugierig bin, wie groß der Abstand zwischen
Wahn und Wirklichkeit noch werden kann.«
    »Wahn und Wirklichkeit«, murmelte Leo.
    »Ja.« Wilhelm kam in Fahrt. »Der Wahn ist ein Ballon, die
Wirklichkeit der Boden. Verstehst du?«
    »Natürlich.«
    »Der Ballon steigt immer höher, weil sie immer mehr heiße
Luft reinpusten. Und je höher der Ballon steigt, desto stärker
spannt er sich, weil die Luft außen immer dünner wird. Und
desto lauter wird der Knall, wenn der Ballon platzt. Sie wissen,
dass das passieren wird. Und trotzdem pusten sie immer
weiter heiße Luft rein.«
    »Warum? Damit es lauter knallt?«
    »Ja. Und damit sie den Absturz auf den Boden der Wirklichkeit
auch bloß nicht überleben.«
    »Das glaub ich nicht. Jeder will doch überleben.«
    »Sicher. Die meisten warten auch nur auf den richtigen
Moment, um mit dem Fallschirm auszusteigen. Den Letzten
vernebelt die dünne Luft da oben offenbar den Verstand. Aber
wer noch ein Fünkchen davon hat, der springt und rettet sich.
Unser Reichsmarschall zum Beispiel. Der hat sich heute nach
Bayern abgesetzt.«
    Leo schaute seinen dreißig Jahre älteren Freund an. »Woher
weißt du so was immer?«
    Wilhelm lächelte dünn, ohne den Blick von der Straße abzuwenden.
»Glaub es mir. Göring ist auf dem Weg nach Berchtesgaden.«
    Unwillkürlich stellte Leo sich Görings aufgedunsene Gestalt
vor, die schnaufend aus dem Korb eines Fesselballons
kletterte.
    Wilhelm hatte den gleichen Gedanken. »Damit wäre der
letzte nennenswerte Ballast von Bord. Und jetzt überleg mal,
wie schnell der Ballon erst ohne den Dicken steigt!«
    Eine Weile lachten beide leise vor sich hin. Unten fuhren
zwei Möbelwagen vor. Spedition Knauer stand in verblichenen
Lettern auf den Planen. Die Fahrer rangierten eine Weile, bis
die Laster quer auf der Straße standen. Auf eine Hauswand
dahinter hatte jemand in weißen Druckbuchstaben »Siegen
oder Sterben!« gepinselt. Der Schriftzug wurde zum Ende
hin immer kleiner, weil der Abstand zum Hauseingang rechts
davon offenbar falsch eingeschätzt worden war.
    »Und während sie oben in ihrem Ballon auf den großen
Knall warten, treffen Wahn und Wirklichkeit hier unten
schon aufeinander. Verstehst du, was ich meine?« Wilhelm
zeigte auf den aufgemalten Schriftzug. »Früher standen Hunderttausend
Leute wie mit dem Lineal gezogen im Karree
und schrien: ›Führer befiehl,
wir folgen!‹ Es war zum Kotzen.
Aber man hat ihnen sofort geglaubt, dass sie die ganze Welt
in Brand setzen.«
    »Und heute können sie keine drei Wörter mehr ordentlich
an eine Wand pinseln. Und trotzdem soll man ihnen glauben,
dass sie den Krieg gewinnen werden«, sagte Leo.
    »Genau. Und jetzt frage ich mich: Glaubt so einer wirklich,
was er da schreibt?«
    »Vielleicht hat ihn jemand dazu gezwungen. Schreib das,
sonst erschieß ich dich!«
    Wilhelm lachte spöttisch auf. »Genau das wird der mit dem
Pinsel hinterher auch sagen: Ich hab doch nur geschrieben,
was man mir befohlen hat! Aber weißt du, was? Es wäre nicht
so
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