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Paris im 20. Jahrhundert

Paris im 20. Jahrhundert

Titel: Paris im 20. Jahrhundert
Autoren: Jules Verne
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untersagte es jedem Fuhrwerk, Lastkarren oder Rollwagen, nach zehn Uhr vormittags herumzufahren, ausgenommen auf wenigen eigens dazu bestimmten Wegen.
    Diese diversen Verbesserungen paßten gut zu diesem fieberhaften Jahrhundert, in dem die Vielfältigkeit der Geschäfte keine Ruhepausen zuließ und keine Verspätung gestattete.
    Was hätte wohl einer unserer Vorfahren beim Anblick dieser Boulevards gesagt, die in einem dem Sonnenschein vergleichbaren Glanz erstrahlten, dieser tausend Wagen, die geräuschlos über den dumpfen Asphalt der Straßen rollten, dieser Läden, die so reich waren wie Paläste und aus denen das Licht sich in weißen Strahlen ergoß, dieser Verkehrswege, so breit wie Plätze, dieser Plätze, so weitläufig wie Ebenen, dieser riesigen Hotels, in denen zwanzigtausend Reisende auf luxuriöse Weise untergebracht waren, dieser überaus leichtgewichtigen Viadukte; dieser eleganten, langen Galerien, dieser von einer Straße zur anderen gespannten Brücken, und schließlich dieser aufsehenerregenden Züge, die mit einer phantastischen Geschwindigkeit durch die Lüfte zu gleiten schienen.
    Er wäre wahrscheinlich überaus erstaunt gewesen; aber die Menschen des Jahres 1960 bewunderten diese Meisterwerke schon lange nicht mehr; sie nutzten sie in aller Ruhe, ohne deswegen glücklicher zu sein, denn an ihrem eiligen Auftreten, an ihrem hastigen Schritt, an ihrem amerikanischen Ungestüm spürte man, daß der Dämon des Reichtums sie unaufhörlich und gnadenlos vorantrieb.
Fußnoten
    1 Die Mauer, die Paris ummauert, macht aus Paris eine murmelnde Stadt.
     
    2 Wenn ein Elektromagnet bei direktem Kontakt ein Gewicht von 1000 kg hochheben kann, so liegt seine Anziehungskraft bei einer Entfernung von 5 Millimetern noch immer bei ungefähr 100 kg. (Anmerkung des Autors.)
Drittes Kapitel
Eine außerordentlich praktisch veranlagte Familie
    Endlich traf der junge Mann bei seinem Onkel ein, Monsieur Stanislas Boutardin, Bankier und Direktor der
Gesellschaft der Pariser Katakomben.
    Diese einflußreiche Persönlichkeit bewohnte ein prachtvolles Herrschaftshaus an der Rue Impériale, ein riesiges Bauwerk von wundervoller Geschmacklosigkeit, mit unzähligen Fenstern, eine richtige Kaserne, die man in einen weniger imposanten, als vielmehr schwerfälligen privaten Wohnsitz umgewandelt hatte. Die Büroräume waren im Erdgeschoß und den Nebengebäuden des Herrschaftshauses untergebracht.
    »Hier also wird sich mein Leben abspielen!« dachte Michel beim Eintreten, »muß ich deshalb jede Hoffnung fahren lassen?«
    Da packte ihn etwas wie ein unbezwingbares Verlangen, weit weg zu fliehen; aber er hielt sich zurück und drückte auf den elektrischen Knopf am Hoftor; dieses öffnete sich geräuschlos, von einer unsichtbaren Feder bewegt, und schloß sich von selbst wieder, nachdem es den Besucher eingelassen hatte.
    Ein weitläufiger Hof führte zu den Büros, die kreisförmig unter einem Dach aus Milchglas angeordnet waren; im Hintergrund gähnte ein breiter Schuppen, in dem mehrere Gas-Cabs auf den Befehl ihres Herrn warteten.
    Michel ging zur Fahrkabine, einer Art Kammer, die ringsum von einem gepolsterten Diwan gesäumt war; ein Diener in orangefarbener Livree hielt sich dort ständig bereit.
    »Monsieur Boutardin«, ersuchte Michel.
    »Monsieur Boutardin hat sich soeben zu Tisch begeben«, antwortete der Fußknecht.
    »Melden Sie bitte Monsieur Dufrénoy, seinen Neffen.«
    Der Diener berührte einen in die Holzvertäfelung eingelassenen Metallknopf, und die Fahrkabine glitt in einer unmerklichen Bewegung bis zum zweiten Stockwerk hinauf, wo das Speisezimmer lag.
    Der Diener meldete Michel Dufrénoy.
    Monsieur Boutardin, Madame Boutardin und ihr Sohn saßen bei Tisch; tiefes Schweigen stellte sich ein, als der junge Mann den Raum betrat; sein Gedeck erwartete ihn, denn das Abendessen hatte eben erst begonnen; auf ein Zeichen seines Onkels hin nahm Michel seinen Platz an der Festtafel ein. Keiner sprach zu ihm. Natürlich war sein Mißgeschick allen bekannt. Er bekam keinen Bissen hinunter.
    Dieses Mahl glich einem Leichenschmaus; die Diener servierten still und stumm; die Gerichte kamen über Schächte, die in den dicken Mauern eingelassen waren, lautlos empor; sie waren reichhaltig, aber mit einem Stich ins Geizige, und schienen die Tischgesellschaft nur ungern zu ernähren. In diesem traurigen, aufs lächerlichste vergoldeten Raum aß man schnell und ohne jede Überzeugung. Das Wesentliche, in der Tat, ist nicht zu
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