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Paris im 20. Jahrhundert

Paris im 20. Jahrhundert

Titel: Paris im 20. Jahrhundert
Autoren: Jules Verne
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essen, sondern, so viel zu verdienen, daß man sich genug zu essen kaufen kann. Michel spürte diesen feinen Unterschied; er glaubte, ersticken zu müssen.
    Beim Nachtisch ergriff sein Onkel zum ersten Mal das Wort und sagte:
    »Morgen, mein Herr, werden wir in aller Frühe miteinander zu reden haben.«
    Michel verneigte sich, ohne zu antworten; ein orangefarbener Diener führte ihn zu seinem Zimmer; der junge Mann legte sich ins Bett; der sechseckige Plafond beschwor eine Fülle geometrischer Theoreme in seinem Geist herauf; wider Willen träumte er von Dreiecken und von Geraden, die man vom Scheitelpunkt auf eine ihrer Seiten fällt.
    »Was für eine Familie«, sagte er sich mitten in seinem unruhigen Schlaf.
    Monsieur Stanislas Boutardin war das natürliche Produkt dieses industriellen Jahrhunderts; er war in einem Treibhaus gewachsen und nicht in freier Natur groß geworden; da er in erster Linie ein praktisch veranlagter Mensch war, tat er nur Nützliches, richtete auch seine kleinsten Gedanken auf das Nützliche, mit dem maßlosen Verlangen, nützlich zu sein, das in einen wirklich idealen Egoismus ausartete; er verband das Nützliche mit dem Unangenehmen, wie Horaz gesagt hätte; seine Eitelkeit trat in seinen Worten, aber mehr noch in seinen Gesten zutage, und er hätte nicht einmal seinem Schatten erlaubt, vor ihm herzugehen; er drückte sich in Gramm und Zentimeter aus und trug jederzeit einen Zollstock bei sich, was ihm eine große Kenntnis von den Dingen dieser Welt verlieh; er verachtete die Künste in Bausch und Bogen und vor allem die Künstler, wobei er so tat, als ob er sie kennen würde; für ihn hörte die Malerei bei der Tuschskizze auf, die Zeichnung beim Aufriß, die Bildhauerei beim Gipsabguß, die Musik beim Pfeifen einer Lokomotive, die Literatur bei den Börsenberichten.
    Dieser in der Mechanik erzogene Mensch erklärte das Leben durch Räderwerke oder Getriebe; er selbst bewegte sich regelmäßig, mit geringstmöglichem Reibungsverlust, wie ein Kolben in einem vollkommen ausgebohrten Zylinder; er übertrug seine gleichförmige Bewegung auf seine Frau, auf seinen Sohn, seine Angestellten, seine Diener, richtige Werkzeugmaschinen, aus denen er, der große Motor, den größtmöglichen Gewinn schlug.
    Alles in allem eine üble Gestalt, unfähig einer guten Regung, einer schlechten übrigens genauso; er war weder gut noch böse, unbedeutend, oft schlecht geölt, keifend und schrecklich mittelmäßig.
    Er hatte ein ungeheures Vermögen angehäuft, falls man so etwas anhäufen nennen kann; der industrielle Schwung des Jahrhunderts riß ihn mit; deshalb zeigte er sich auch dankbar gegenüber der Industrie, die er wie eine Göttin verehrte; er war der erste, der für sein ganzes Haus und sich selbst Kleidung aus gesponnenem Eisen einführte, die um 1934 herum auftauchte. Diese Art Stoff fühlte sich zwar so weich an wie Kaschmir, wärmte jedoch zugegebenermaßen nicht besonders, aber mit einem anständigen Futter kam man über den Winter; wenn diese unverwüstlichen Kleidungsstücke doch einmal rosteten, wurden sie mit einer Feile nachgeschliffen und in den gerade modischen Farben lackiert.
    Der Bankier hatte die soziale Stellung eines Direktors der
Gesellschaft der Pariser Katakomben und der Antriebskraft frei Haus.
    Die Aktivitäten dieser Gesellschaft bestanden darin, die Luft in ihren weitverzweigten und lange Zeit nicht genützten unterirdischen Gängen einzulagern; sie wurde dort unter einem Druck von vierzig und fünfzig Atmosphären aufgestaut, eine konstante Kraft, die man durch ein Leitungssystem in Werkstätten, Fabriken, Betriebe, Spinnereien, Mühlen beförderte, überallhin, wo eine mechanische Einwirkung gebraucht wurde. Diese Luft diente, wie wir bereits gesehen haben, dazu, die Züge auf den Railways der Boulevards in Bewegung zu setzen. Eintausendachthundertdreiundfünfzig Windmühlen, die man in der Ebene von Montrouge aufgestellt hatte, trieben die Luft mit Hilfe von Pumpen in diese weitläufigen Reservoirs.
    Diese ganz bestimmt sehr praktische Idee, die überdies auf die Nutzung der Naturkräfte zurückgriff, wurde vom Bankier Boutardin lebhaft befürwortet; er wurde zum Direktor dieser wichtigen Kompanie und blieb zugleich Mitglied in fünfzehn oder zwanzig Aufsichtsräten, Vizepräsident der
Schlepplokomotiven-Gesellschaft,
Geschäftsführer der
Zweigniederlassung der vereinigten Asphalte
usw. usw.
    Vor vierzig Jahren hatte er Mademoiselle Athénaïs Dufrénoy, Michels Tante,
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