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Paris im 20. Jahrhundert

Paris im 20. Jahrhundert

Titel: Paris im 20. Jahrhundert
Autoren: Jules Verne
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die
Praktische Abhandlung über das Einfetten der Antriebsräder,
dieser die
Monographie des neuentdeckten Gehirnkrebses.
    »Was!« sagte sich Michel, »nichts als Wissenschaft! Industrie! Hier genauso wie im Gymnasium, und nichts für die Kunst! Und ich wirke wie ein Narr, wenn ich nach literarischen Werken verlange! Bin ich denn verrückt?«
    Eine gute Stunde lang versank Michel in seinen Überlegungen; und die Nachforschungen gingen weiter, und der Telegraph arbeitete ohne Unterlaß, und man ließ sich die Namen der Autoren wiederholen; man durchstöberte Keller und Dachböden; doch vergebens. Man mußte es aufgeben.
    »Monsieur«, sagte schließlich ein Angestellter, der Chef der Antworten-Abteilung, zu dem jungen Mann, »das haben wir nicht. Diese Autoren waren zu ihrer Zeit sicherlich kaum bekannt; ihre Werke sind nicht wiederaufgelegt worden …«
    »Der Glöckner von Notre-Dame«,
antwortete Michel, »ist in fünfhunderttausend Exemplaren gedruckt worden.«
    »Ich will es Ihnen gerne glauben, mein Herr, aber von den alten Autoren, die heutzutage neu herausgegeben werden, haben wir nur Paul de Kock, einen Moralisten aus dem letzten Jahrhundert; das scheint mir sehr gut geschrieben, und wenn Sie möchten …«
    »Ich werde anderswo nachfragen«, gab Michel zur Antwort.
    »Oh! Sie werden ganz Paris absuchen und nichts finden. Was hier nicht zu bekommen ist, bekommt man nirgends.«
    »Das werden wir ja sehen«, sagte Michel und entfernte sich.
    »Aber, mein Herr«, fuhr der Angestellte fort, der durch seinen Eifer das Zeug zu einem Krämergehilfen gehabt hätte, »wie wäre es mit literarischen Werken der Gegenwart? Wir haben mehrere Produkte, die im Verlauf der letzten Jahre einiges Aufsehen erregt haben; für Dichtung hat sich das nicht schlecht verkauft …« …«
    »Ah!« sagte Michel geködert, »Sie führen moderne Poesie?«
    »Gewiß. Und unter anderem die
Elektrischen Harmonien
von Martillac, ein von der Akademie der Wissenschaften preisgekröntes Werk, die
Betrachtungen über den Wasserstoff
von Monsieur de Pulfasse, das
Poetische Parallelogramm,
die
Dekarbonisierten Oden …
«
    Michel hatte es nicht ertragen, weiter zuzuhören, und er fand sich auf der Straße wieder, niedergeschmettert und betäubt! Dem bißchen Kunst war es also nicht gelungen, dem verderblichen Einfluß der Zeit zu entkommen! Wissenschaft, Chemie, Mechanik hatten das Reich der Poesie erobert!
    »Und diese Dinge werden auch noch gelesen«, wiederholte er, während er durch die Straßen lief; »beinahe sogar gekauft! Und jemand setzt seinen Namen darunter! Und so etwas steht in den Regalen für Literatur! Und einen Balzac, einen Victor Hugo sucht man vergebens! Aber wo soll man sie finden! Ah! Die Bibliothek.«
    Schnellen Schrittes ging Michel zur kaiserlichen Bibliothek; ihre Gebäude, die sich ungemein vermehrt hatten, erstreckten sich über einen großen Teil der Rue Richelieu, von der Rue Neuve-des-Petits-Champs bis hin zur Rue de la Bourse. Die ohne Unterlaß angehäuften Bücher hatten die alten Mauern des Hôtel de Nevers gesprengt. Jedes Jahr wurden sagenhafte Mengen an wissenschaftlichen Büchern gedruckt; da die vorhandenen Verlage nicht mehr ausreichten, verlegte der Staat selbst: auch wenn man die von Charles V. hinterlassenen neunhundert Bände mit tausend multipliziert hätte, wäre man nicht auf die laufende Anzahl aller in der Bibliothek gestapelten Bücher gekommen; von achthunderttausend im Jahre 1860 hatte sie sich nun auf über zwei Millionen erhöht.
    Michel ließ sich den für die Literatur vorbehaltenen Teil der Gebäude zeigen, und er nahm die Hieroglyphentreppe, die von Bauarbeitern gerade mit kräftigen Pickelschlägen restauriert wurde.
    Im Literatursaal angekommen, fand Michel diesen völlig vereinsamt und in seiner Verlassenheit um vieles sonderbarer denn einst, als ihn eine wissensdurstige Menschenmenge füllte. Ein paar Ausländer besuchten ihn noch, so wie man etwa die Sahara besichtigt, und man zeigte ihnen den Platz, an dem 1875 ein Araber genau an dem Tisch gestorben war, den er sein ganzes Leben lang eingenommen hatte.
    Die Formalitäten, die notwendig waren, um ein Werk zu bekommen, erwiesen sich als höchst kompliziert; der vom Antragsteller unterzeichnete Bestellschein mußte den Titel des Buches, dessen Format, das Datum seiner Veröffentlichung, die Nummer der Auflage und den Namen des Autors enthalten, das heißt also, man konnte nichts lernen, wenn man nicht bereits ein Gelehrter war;
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