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Paris im 20. Jahrhundert

Paris im 20. Jahrhundert

Titel: Paris im 20. Jahrhundert
Autoren: Jules Verne
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eine reiche Familie; bringen Sie diese nicht in Verruf. Der Künstler ist nämlich nicht weit entfernt vom Fratzenschneider, dem ich von meinem Sperrsitz hundert Sou zuwerfe, damit er meine Verdauung bei Laune hält. Sie verstehen, was ich meine. Kein Talent. Fertigkeiten. Da ich bei Ihnen keine besondere Begabung feststellen konnte, habe ich beschlossen, daß Sie in das Bankhaus Casmodage & Co. eintreten werden, unter der Anleitung Ihres Cousins; nehmen Sie sich ihn zum Vorbild; bemühen Sie sich, ein Praktiker zu werden! Denken Sie daran, daß in Ihren Adern auch Boutardinsches Blut fließt, und damit Sie sich leichter an meine Worte erinnern, achten Sie darauf, diese niemals zu vergessen.«
    Man sieht, 1960 war die Rasse der Prud’homme noch nicht ausgestorben; sie hatten die hehren Traditionen bewahrt. Was sollte Michel auf einen solchen Wortschwall antworten? Nichts, er schwieg also, während seine Tante und sein Cousin zustimmend nickten.
    »Ihre Ferien«, fuhr der Bankier fort, »beginnen heute morgen und enden heute abend. Morgen werden Sie dem Chef des Hauses Casmodage & Co. vorgestellt. Sie können gehen.«
    Der junge Mann verließ das Arbeitszimmer seines Onkels; seine Augen schwammen in Tränen; doch er kämpfte gegen die Verzweiflung an.
    »Ich habe nur einen Tag Freiheit«, sagte er sich; »wenigstens werde ich ihn nach meinem Belieben verwenden; ich besitze ein paar Sou; also will ich anfangen, mir eine Bibliothek mit den großen Dichtern und berühmten Autoren des vergangenen Jahrhunderts anzulegen. Sie werden mich jeden Abend über die Unannehmlichkeiten des Tages hinwegtrösten.«
Viertes Kapitel
Von einigen Autoren des 19. Jahrhunderts und der Schwierigkeit, sich diese zu beschaffen
    Michel ging Rasch auf die Straße hinunter und machte sich auf den Weg zur
Buchhandlung der Fünf Erdteile,
einem unübersehbaren Warenlager, das in der Rue de la Paix lag und von einem hohen Staatsbeamten geleitet wurde.
    »Alles, was der menschliche Geist hervorgebracht hat, muß hier verborgen sein«, sagte sich der junge Mann.
    Er betrat eine geräumige Eingangshalle, in deren Mitte ein telegraphisches Büro mit den entlegensten Verkaufsstellen der Geschäfte in Verbindung stand; ein Heer von Angestellten lief unaufhörlich kreuz und quer; in den Mauern auf-und abgleitende Gegengewichte hoben die Kommis bis zu den obersten Regalreihen der Säle empor; eine stattliche Menschenmenge belagerte das Büro, und die Postboten krümmten sich unter der Bücherlast.
    »Nie wird es mir gelingen, all das zu lesen«, dachte er, während er sich in die Schlange vor dem Büro einreihte. Endlich kam er an den Schalter.
    »Was wünschen Sie, mein Herr«, fragte ihn der Angestellte, Leiter der Anfragen-Abteilung.
    »Ich möchte die Gesammelten Werke von Victor Hugo«, antwortete Michel.
    Der Angestellte riß die Augen auf.
    »Victor Hugo?« sagte er. »Was hat der gemacht?«
    »Das ist einer der großen Dichter des 19. Jahrhunderts, wenn nicht sogar der größte«, antwortete der junge Mann errötend.
    »Kennen Sie das?« fragte der Angestellte einen zweiten Angestellten, den Leiter der Nachforschungs-Abteilung.
    »Noch nie davon gehört«, antwortete dieser. »Sind Sie sich des Namens ganz sicher?« fragte er den jungen Mann.
    »Vollkommen sicher.«
    »Es kommt nämlich selten vor«, fuhr der Kommis fort, »daß wir hier literarische Werke verkaufen. Aber da Sie sich nun einmal gewiß sind … Rhugo, Rhugo …«, sagte er beim Telegraphieren.
    »Hugo«, wiederholte Michel. »Bitte bestellen Sie auch gleich Balzac, Musset, Lamartine.«
    »Wissenschaftler?«
    »Nein! Schriftsteller.«
    »Lebende?«
    »Seit einem Jahrhundert tot.«
    »Monsieur, wir werden unser Möglichstes tun, um Ihnen eine Gefälligkeit zu erweisen; aber ich befürchte, unsere Nachforschungen werden lange dauern, wenn nicht sogar vergeblich sein.«
    »Ich warte«, antwortete Michel.
    Und wie vor den Kopf geschlagen, zog er sich in eine Ecke zurück. So währte also dieser ganze Ruhm nicht einmal ein Jahrhundert! Die
Orientalia,
die
Poetischen Betrachtungen,
die
Ersten Gedichte,
die
Menschliche Komödie,
vergessen, verloren, unauffindbar, verkannt, unbekannt!
    Indes gab es da ungeheure Bücherladungen, welche von hohen Dampfkränen mitten in die Höfe hinuntergelassen wurden, und die Käufer drängten sich um das Anfrage-Büro. Doch der eine wollte die
Theorie der Reibungen
in zwanzig Bänden, der andere die
Zusammenfassung der elektrischen Probleme,
jener
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