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Osama (German Edition)

Osama (German Edition)

Titel: Osama (German Edition)
Autoren: Lavie Tidhar
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überqueren. Es herrschte kein Verkehr. Leichter Regen fiel, und hinter ihr kam die Sonne durch, doch ihr Gesicht konnte er nicht sehen. Einen Moment lang kam es ihm so vor, als stünde die ganze Welt still, eine erstarrte Kulisse, in der die sich bewegende Frau das einzig Lebendige war. Dann zogen sich oben die Wolken zu, die junge Frau war weg, und Joe seufzte, wandte sich vom Fenster ab und griff nach seinen Zigaretten.
    »Hallo«, sagte eine leise Stimme ganz in der Nähe, und Joe zuckte zusammen, wobei er das Zippo, das er gerade im Begriff war, in die Hand zu nehmen, wieder auf die Tischplatte fallen ließ. Er blickte auf. Sie erwiderte seinen Blick. Hinter ihr war das Fenster, und jenseits der Glasscheibe drang das Sonnenlicht durch den Regen, so dass die Regentropfen einen Moment lang aussahen wie tausend Miniaturprismen, die in der Luft schwebten. »Ich habe Sie nicht reinkommen hören«, sagte er mit einem Blick zu der halb geöffneten Tür. Die junge Frau lächelte. »Sie schienen in Gedanken zu sein«, sagte sie. »Da wollte ich Sie nicht stören.« Sie hatte lange braune Haare und war ziemlich zierlich, die Augen leicht mandelförmig, und obwohl sie eindeutig Europäerin war, wirkte sie von der Statur her eher asiatisch. Sie sah aus wie eine Frau, die in Europa immer Probleme gehabt hätte, Kleidung in der richtigen Größe zu finden, hier dagegen gar nicht. Wenn sie lächelte, bildeten sich um ihre Augenwinkel feine Fältchen, und ohne so recht zu wissen, warum, fragte er sich, ob sie wohl vom Lachen oder vom Weinen kamen. Er sagte: »Kann ich Ihnen helfen?«
    »Sind Sie Detektiv?« Sie setzte sich nicht, und er bot ihr keinen Stuhl an. Da zu stehen, während hinter ihr Regen und Sonne aufeinanderprallten, schien für sie in Ordnung zu sein. Er überlegte, was für einen Akzent sie hatte. »Ich …«, sagte er und zuckte die Schultern, während seine Hände das nackte Büro, die Stille des Regens umfingen. Dann sagte er: »Was wollen Sie?«
    Da kam sie näher, bis sie, den Blick auf ihn gerichtet, an der Kante des Schreibtischs stand. Sie schien ihn zu mustern, als steckte hinter seiner Frage mehr, als ihm bewusst war. Ihre Hand fiel auf die Tischplatte, blieb dort auf dem Taschenbuch liegen, und sie drehte sich um. Ihre Finger betasteten Rücken und Umschlag des Buchs, und dann nahm sie es in die Hand, während sie, das Fenster immer noch hinter sich, einen Schritt vom Schreibtisch zurücktrat. Sie schlug das Buch auf und blätterte die vergilbenden Seiten durch.
    »Das Hilltop-Hotel steht in der Ngiriama Road mitten in Nairobi«, las sie. Ihm fiel auf, dass die korrekte Aussprache des Straßennamens ihr keine Schwierigkeiten bereitete. »Draußen auf der belebten Straße gibt es Schuhputzer und Stände mit Rubbellosen und Taxifahrer …«
    »Nein. Das ist falsch«, sagte Joe.
    »Nein?« Aus irgendeinem Grund sah sie bestürzt aus.
    »Ich glaube, da ist eine Pause, kein ›und‹«, sagte er. Es erinnerte ihn an irgendetwas, so als hätte er einmal jemanden gekannt, der das machte, der, wenn er aus einem Buch vorlas, Satzzeichen durch Wörter ersetzte. Jemanden, der gerne aus Büchern vorlas; das bereitete ihm Unbehagen. »Das ist nur ein Schundroman«, sagte er, sich in der Defensive fühlend. »Verkürzt einem die Zeit.« Er wusste nicht, warum er sich entschuldigte oder versuchte, sich vor ihr zu rechtfertigen. Die junge Frau schlug das Buch zu und legte es wieder auf den Schreibtisch, so vorsichtig, als hantierte sie mit einem wertvollen Gegenstand. »Finden Sie?«, sagte sie. Er wusste nicht, was er ihr antworten sollte, und schwieg. Sie blieb stehen. Die beiden blickten einander an, und er fragte sich, was sie sah. Ihre Finger waren ziemlich lang und dünn. Ihre Ohren ein wenig spitz. Schließlich sagte sie: »Ich möchte, dass Sie ihn finden«, und dabei strichen ihre Finger zärtlich über das Buch; den Blick, den sie dabei in den Augen hatte, konnte er nicht in Worte fassen; er fand, dass sie verloren aussah, und traurig, und ein bisschen verletzlich.
    »Wen finden?«
    »Mike Longshott«, sagte sie, und Joes Überraschung wurde zu einem Gelächter, das ohne Vorwarnung aus ihm herausplatzte.
    »Den Typ, der dieses Zeug schreibt?«
    »Ja«, sagte sie geduldig. Hinter ihr ließ der Regen nach. Ihre Stimme schien leiser zu werden, so als stünde sie in Wirklichkeit weiter weg. Joe trat vor, um das Buch vom Schreibtisch zu nehmen, und seine Finger berührten ihre. Plötzlich sprachlos, hob er den
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