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Osama (German Edition)

Osama (German Edition)

Titel: Osama (German Edition)
Autoren: Lavie Tidhar
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aufzuschließen, was wahrscheinlich nicht vor Mittag passieren würde.
    Joe öffnete die Tür zu seinem Büro und ließ beim Eintreten wie jedes Mal den Blick durch den Raum schweifen. Die etwas schmierigen Fenster zeigten Hausdächer und einen weiten, offenen Himmel über dem Mekong. Sein Schreibtisch war aus unbehandeltem Massivholz, unter einem der Tischbeine klemmte zur Stabilisierung ein mehrfach gefaltetes Blatt Papier. Auf dem Tisch verstreute Akten, ein Briefbeschwerer in Form eines Elefanten, ein mattfarbener metallener Brieföffner, eine Schreibtischlampe und ein Aschenbecher aus einer polierten Kokosnussschale. Darin lagen noch Asche und zwei Zigarettenstummel vom Vortag, und Joe nahm sich vor, mit der Putzfrau zu reden, wenngleich das überhaupt nichts zu bewirken schien. Ein Telefon stand nicht auf dem Schreibtisch. In der obersten Schublade lag ein billiges thailändisches Imitat einer Smith & Wesson, Kaliber 38, ohne Lizenz, und eine Flasche Johnny Walker Red Label, halb leer oder halb voll, wie man wollte.
    Außerdem befanden sich in dem Raum: ein aus Bambus geflochtener und wie der Aschenbecher nicht ausgeleerter Papierkorb; ein metallener Aktenschrank, leer bis auf ein Paar ausgelatschte, für Joe zwei Nummern zu kleine Schuhe, die einzige Habe, die vom vorherigen Mieter des Büros zurückgelassen worden war; ein einzelnes Bücherregal; an der Wand ein kleines Gemälde mit einem brennenden Feld, die Blumen blutrot, der Rauch in gezackten weißen und grauen Linien über die Leinwand wirbelnd, in der Ferne verschwommen die Gestalt eines Mannes, dessen Gesicht hinter dem Rauch verschwand; drei Stühle, einer hinter dem Schreibtisch, zwei davor; in einer Ecke eine längst verwelkte Topfpflanze.
    Es fühlte sich heimisch an. Als er vollends eintrat und die Tür halb hinter sich zuzog, schreckte er einen kleinen Gecko an der Wand auf, und als dieser hochschnellte, tauchten weitere auf. Einen Moment lang erschien es Joe wie eine Explosion, vor deren Quelle – nämlich ihm – die Geckos wegrannten. Lächelnd ging er zu seinem Schreibtisch und legte das Taschenbuch auf die Tischplatte. Er teilte sein Büro mit niemand anderem als den Geckos. Jedes Mal, wenn er hereinkam, hatte er den Eindruck, es wären mehr geworden. Sie versteckten sich unbemerkt in Ecken, und immer wenn er eine Schublade öffnete oder Stuhlbeine über den Boden zog, schreckte er sie auf, und sie flitzten davon. Einmal war er auf einen einzelnen Gecko gestoßen, der neben dem Papierkorb hockte. Sein linkes Vorderbein war verletzt gewesen, und er hatte so lange reglos verharrt, dass Joe ihn schon für tot gehalten hatte. Er hatte sich gefragt, was ihm wohl widerfahren war – war er in einen Kampf mit einem Artgenossen geraten? Er fand es nie heraus. Später, als Joe wieder hinschaute, hatte der Gecko sich bewegt: das Letzte, was Joe von dem verletzten Tier sah, war, wie es langsam durch den Schlitz unter der Tür kroch, bis schließlich seine Schwanzspitze verschwand und es durch war, aus der Sicherheit des Büros in den angrenzenden Korridor.
    Joe ging um den Schreibtisch herum und setzte sich. Er erwog, sich eine Zigarette anzuzünden, entschied sich jedoch dagegen. Er drehte den Stuhl zum Fenster und starrte nach draußen. Der Himmel zog sich zu, und er konnte den heraufziehenden Regen riechen.

Umrisse einer Frau durch den Regen
    Ganz plötzlich begann es zu regnen. In der Ferne, im weiten, offenen Himmel über dem Mekong, zerbarst ein Donner in krachende Scherben, während blaue Blitze das Grau durchzuckten. Joe starrte zum Fenster hinaus, sah ein barfüßiges Kind, gegen den Regen ein grünes Blatt von der Größe eines Tabletts über dem Kopf, durch die Pfützen rennen. Die Luft war feucht und roch nach Pflanzen und Erde, und Joe wusste, dass später in der Nacht die Schnecken herauskommen und wie behäbige Lokomotiven, ihre Schienen hinter sich zurücklassend, über die Straße gleiten und dass die Frösche sich in den Tümpeln aalen würden, die für sie wie große Wasserpaläste waren. Plötzlich erklingender Gesang, von Rauschen eingerahmt, kam und ging mit dem Wind. Hoch oben flog ein einzelner Vogel, stieß herab und verschwand, kaum mehr als ein schwarzer Punkt am Horizont, außer Sicht.
    Dann, als der Regen nachzulassen begonnen hatte und das Sonnenlicht durch die frischen Einschnitte in der Wolkendecke herabströmte, sah er sie zum ersten Mal. Mit gesenktem Kopf auf ihren Weg konzentriert, war sie dabei, die Straße zu
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